Donnerstag, 14. Juli 2016
Trauma
Es hat lange gedauert, bis ich überhaupt über diesen Nachmittag nachdenken konnte. Geschweige denn, darüber reden. Traumatische Ereignisse prägen Menschen. Jeder geht damit anders um. Manch einer geht komplett daran zugrunde aber ich habe gelernt, damit weiter zu leben. Egal, wie aussichtslos die Lage scheint…es gibt immer einen Ausweg. Die Dunkelheit wird nicht gewinnen, wenn wir es nicht zulassen. (…)
Ich fuhr mit dem Aufzug nach oben und bekam zunehmend ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht, das wusste ich sofort. Meine Handtasche fest umklammert, lief ich auf die Wohnungstüre der WG zu. Sie stand offen. Einen Moment lang zögerte ich, doch dann hörte ich das schwere Atmen, welches aus der Wohnung kam. Das hörte sich überhaupt nicht gut an. Schmerzerfüllt und schwach. Langsam betrat ich die Wohnung. Ich wusste schon, dass meine Augen gleich etwas Grausames sehen würden. Zitternd ging ich den schmalen Flur entlang. Im Türrahmen des Wohnzimmers blieb ich stehen. Wie erstarrt sah ich auf den Boden, auf dem Zeynep lag und um ihr Leben kämpfte. In ihrem Bauch war ein großer Schnitt, aus dem so viel Blut raus kam, dass ich meine Gesichtsfarbe verlor. Ich schrie auf und war blitzschnell neben ihr. Sie rang nach Luft. Es hörte sich an, als würde sie an ihrem Blut ersticken. Vorsichtig drehte ich sie zur Seite, damit sie abhusten konnte. „Oh mein Gott, ich weiß nicht was ich tun soll…“, hauchte ich mit tränenerstickter Stimme. Schnell sprang ich auf, nahm ein Handtuch, welches sich auf dem Stuhl neben mir befand, und presste es auf die Wunde. Mit der anderen Hand kramte ich nach meinem Handy und verständigte den Notdienst. Meine Hände zitterten extrem und waren bald darauf blutverschmiert. Zeynep verlor ihre natürliche Hautfarbe. Es war schrecklich. Weinend lehnte ich mich über sie und strich ihr über die Wange. „Es wird alles gut, wir kriegen das schon hin. Bitte, bleib wach“, weinte ich verzweifelt. Zeyneps Augen fielen immer wieder zu und sie keuchte schrecklich. „Er…war…das…“, krächzte sie schwach. „Wer? Wer war das?“, fragte ich sie erschüttert. Ich hörte die Sirenen auf der Straße. Bald würde vielleicht alles gut werden. „Chris…“, flüsterte Zeynep. „Pass auf…dich…auf.“ Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Wir alle wussten, dass Kürsad und seine Clique verrückt waren. Aber niemals hätte ich gedacht, dass seine Freunde auch so weit gehen würden. Zeyneps ganzer Körper fing an zu zittern. Die Rettungskräfte kamen in die Wohnung. Ich bekam alles nur noch in Zeitlupe mit. Einer von ihnen zog mich an den Armen von Zeynep weg und sprach mit mir. Doch ich konnte nichts verstehen. Alles war so weit weg. (…)
Ausgelaugt saß ich auf dem Boden und starrte die Wand an. Der Krankenhaus-Flur war sehr belebt. Ständig liefen Ärzte und Krankenschwestern an mir vorbei. Aber ich ignorierte alles. Stattdessen saß ich da, die Beine ausgestreckt und die blutverschmierten Hände auf den Oberschenkeln. Ich wusste nicht mal, ob ich überhaupt noch am atmen war. Nach unbestimmter Zeit setzte sich jemand neben mich. Noah sah mich mit feuchten, blauen Augen an. Dana und Jonah standen an der Wand gegenüber von uns und hatten auch Tränen in den Augen. Keiner sprach ein Wort. Zenyeps Eltern kamen an uns vorbei. Besonders die Mutter weinte bitterlich, während der Vater sie stützte. Er hatte einen leeren Blick, so als wäre er innerlich gestorben. Als die Mutter uns bemerkte, starrte sie Noah an, als wäre er der Teufel persönlich. „Ihr seid schuld! Wäre sie nicht in diese verdammte WG gezogen, würde sie noch leben! Ihr habt sie umgebracht!“, brüllte sie und wollte auf Noah losgehen. Der Mann hielt sie jedoch fest umklammert und zog sie weiter. Jetzt sah ich es das erste Mal. Eine Träne lief über Noahs Wange. Zeynep war Tod. (…)
Wir fuhren zu Noahs und Jonahs Verwandten. Sie besaßen ein großes Haus ganz in der Nähe. So aufgelöst konnte ich nicht in meine Wohnung und die WG wollte keiner mehr betreten. Keiner von uns realisierte, dass Zeynep nicht mehr da war. Es war noch so unwirklich, wie ein Albtraum. Insgeheim erwartete ich, dass mein Wecker bald klingeln würde. Im Haus ging jeder seine Wege und es wurde immer noch kaum ein Wort gesprochen. Ich beschloss ins Badezimmer zu gehen, um die Reste des Blutes von meinen Händen zu waschen. Das Bad war, wie das gesamte Haus, riesengroß. Im Spiegel bemerkte ich, dass meine blaue Bluse ebenfalls Blutflecke abbekommen hatte. Ich würde diese Bluse wohl nie wieder tragen können. Ich würde wohl nie wieder auf meine Hände gucken können, ohne dabei an Zeynep zu denken. Heulend brach ich zusammen und kauerte mich auf den Boden. Mein Leben würde nie wieder so sein, wie es vielleicht vorher war. Jemand klopfte an die Türe und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. „Hey…“ Noah griff nach meinen Handgelenken und half mir hoch. Danach klappte er den Klodeckel herunter, damit ich mich setzen konnte. Wie ferngesteuert ließ ich mich lenken. So, als wäre ich in einer anderen Welt. „Warte hier“, wies er mich monoton an und verließ das Badezimmer. Kurz darauf reichte er mir ein schwarzes Shirt von ihm. „Zieh die Bluse aus. Ich schmeiße sie dann weg“, sagte Noah und drehte sich um, damit ich mich umziehen konnte. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Sofort riss ich die Bluse regelrecht von meinem Körper und warf sie auf den Boden. Anschließend schlüpfte ich in das viel zu große Shirt. „Danke…“, hauchte ich mit heiserer Stimme. Er drehte sich wieder um, nahm meine Hand und führte mich zum Waschbecken. Dort drehte er am Wasserhahn und griff nach der Seife. Danach begann er damit, meine Hände zu schrubben, um alles Rote verschwinden zu lassen. Seine Hände zitterten dabei. Nachdem er fertig war, holte er Luft, reichte mir ein Handtuch und ging zur Türe. Am Türrahmen hielt er inne und schaute mich über die Schulter hinweg an. „Ich kann nicht richtig für dich da sein. Heute muss jeder alleine damit fertig werden…“, stellte er trocken fest und ging weiter. Er hatte recht. Man musste alleine damit fertig werden. Oder alleine scheitern und innerlich sterben. (…)
Und heute? Heute erinnert mich noch vieles an Zeynep. Manchmal, da sehe ich sie in meinen Träumen. Ich sehe sie lebendig und nicht, wie an diesem Nachmittag. Das beruhigt mich, denn es erinnert mich an sie, wie sie wirklich war. Lebendig, liebenswürdig und voller Hoffnungen. In meinen Träumen, sehe ich ihr Gesicht, ihr warmherziges Lächeln. In meinen Träumen, da lebt sie.

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