Montag, 15. August 2016
Verhandlung
Nachdem ich meinen Eid gesprochen hatte erzählte ich ihnen alles. Der Richter hörte mir aufmerksam zu, während ich den ganzen Tag noch einmal durchging, bis zu Zeyneps zierlichem Körper auf dem Laminat-Boden. Danach erklärte ich die Vorgeschichte von meinem Verhältnis zu Christian und auch zu Kürsad. Dabei ließ ich kein Detail aus und kein schreckliches Gefühl der Angst unerwähnt. So eine Gerichtsverhandlung war fast so, wie im Fernsehen. Natürlich fehlten die Kameras und die breite Masse an Zuschauern im Hintergrund. Der Richter saß vor mir, auf einem hohen Stuhl und trug seine einschüchternde Robe. Seine schwarzen, kurzen Haare wurden bereits grau und er hatte einige Stoppeln am Kinn. Die Augenbrauen waren buschig und verdeckten fast seine dunklen Augen. Es waren viele Leute im Gerichtsaal, von denen ich die Funktion nicht kannte. Manche schrieben mit und manche schauten mich einfach nur kritisch und aufmerksam an. Christian, Zeyneps Mörder, saß links von mir neben seinem jungen Verteidiger. Die anderen Zeugen, meine Freunde, befanden sich hinter der großen Saal-Tür. Auch Kürsad und mich trennte nur eine Türe. Die Zeugen wurden einzeln aufgerufen und hereingebeten. Jetzt war ich dran. (…)
Nachdem ich meine Version vervollständigt hatte, starrte ich den Richter nervös an. Obwohl ich wusste, dass ich im Recht war, schüchterte mich das Ambiente trotzdem ein. „Also…die Geschichte hört sich durchaus tragisch an und die Beweislage gegen meinen Mandaten ist zugegeben erdrückend“, meldete sich der Verteidiger von Christian zu Wort. Mein Blick wanderte zu dem jungen Typen, der augenscheinlich grade sein Jura-Studium beendet hatte. Er hatte dunkelblondes Haar, welches schon vor lauter Gel und Haarspray schimmerte. Seine grauen Augen musterten mich neugierig, während er anfing, sich Notizen zu machen. Dabei bildete sich eine tiefe Falte in seiner Stirn, die ihn älter machte, als er eigentlich war. „Aber wollen wir uns mal ihr Leben anschauen“, beendete der Verteidiger seine Ansprache und machte eine symbolische Pause. Mein Puls wurde schlagartig schneller und ich blickte zu Chris, der mich schadenfroh angrinste. Er hatte bereits verloren, versuchte ich mir zumindest einzureden. „Haylie, sie sind auch kein unbeschriebenes Blatt. Sie könnten genauso Täterin sein“, warf mir der Verteidiger vor. Meine Augen weiteten sich und mein weißes Hemd schien plötzlich enger zu werden und mir die Luft abzuschnüren. „Denken sie daran…sie müssen nichts sagen, wenn sie sich dabei selbst belasten“, warf der Richter ein, als hätte er diesen Satz schon tausend Mal gesagt. Das war wahrscheinlich auch so. „Wieso sollte ich Zeynep umbringen? Mit welchem Motiv?“, fragte ich den Verteidiger mit zitternder Stimme. Weinen würde mich auch nicht weit bringen und ich wollte nicht, dass Chris mich so sah. „Drogensüchtige brauchen kein Motiv. Manchmal reichen Wahnvorstellungen. Ich habe mich im Vorfeld auch schlau gemacht und habe ihre Akte gelesen“, stellte der Verteidiger mit einem überheblichen Unterton fest. „Sie waren Drogensüchtig und haben zusammen mit einem gewissen Henry P. gedealt. Heroin, LSD, Marihuana, Kokain…Crystal Meth? Sie wurden wegen Einbruch angezeigt und waren für mehrere Wochen in einer psychiatrischen Anstalt. Also, wenn das mal nicht Motiv genug sein kann. Manchmal ist man einfach unzurechnungsfähig.“ Mit offenem Mund saß ich da, auf dem unbequemen Stuhl aus Holz und wünschte mir, ein Loch im Boden würde sich auftun, indem ich verschwinden könnte. Zuerst war ich sprachlos, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mir alte Geschichten vorwerfen würden. Doch ich fing mich schnell und atmete durch. Ich kannte schließlich die Wahrheit und musste stark sein, für Zeynep. „Ja, ich war Drogensüchtig. Das war falsch und ich bereue jeden Tag von damals. Aber ich war jung und dumm…und einsam. Sowas kann schnell passieren. Was den Einbruch angeht…Henry hat mir erzählt, dass es das Haus von seiner Tante wäre und wir haben nur gefeiert. Nichts wurde entwendet. Natürlich schützt Unwissenheit vor Strafe nicht. Das haben mir die Polizisten oft genug gesagt. Dinge sind passiert…viele, auf die keiner stolz sein kann. Zu guter Letzt…die Psychiatrie. Ich war dort nicht wegen Wahnvorstellungen, sondern wegen somatoformen Störungen. Wegen körperlichen Schmerzen auf psychischer Basis. Nicht mehr, nicht weniger“, sprach ich laut und deutlich in die Richtung des Verteidigers. Ich wollte, dass er sich jedes Wort davon einprägte. „Und einmal, weil sie sich umbringen wollten“, korrigierte der Verteidiger mich und musste sich sogar ein Grinsen zurück halten. Seine Arroganz war bis zu meinem Platz zu riechen. „Danke für diese Erinnerung. Jeder Mensch hat Probleme. Es gibt Momente, in denen man nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Aber das hatte nichts mit Zeynep zu tun und hat hier auch nichts zu suchen“, bemerkte ich schroff und verschränkte meine Arme vor der Brust. Jetzt wich die Angst und Wut kam zum Vorschein. „Ich denke auch, dass dies hier nichts zu suchen hat“, sagte der Richter und kratzte sich am Kinn. „Wie schon gesagt wurde, die Beweislage gegen den Angeklagten ist erdrückend und ich sehe keinen Grund, Geschichten aus längst vergangenen Jahren auszupacken, die nichts mit dem Verfahren hier zu tun haben.“ Damit wurde dem Verteidiger das Wort abgeschnitten. Mit einem letzten, finsteren Blick zu ihm, wandte ich mich wieder dem Richter zu. (…)
Als ich aus dem Gerichtssaal kam, schauten mich direkt viele Augenpaare an. Kürsad saß am Ende des Ganges und wurde von einem Polizisten bewacht. Das verschaffte mir wenigstens etwas Sicherheit. Noah saß direkt vor mir, lehnte mit dem Kopf gegen die Wand und war ganz blass. Niemand von uns mochte es, über diesen Tag zu sprechen. Automatisch tauchten Bilder im Kopf auf, die man schon längst gelöscht haben wollte. Ich setzte mich auf einen leeren Stuhl, weit weg von den anderen, und kuschelte mich in die Strickjacke, die mir Marvin einen Abend zuvor gegeben hatte. Dabei bemerkte ich Kürsads bohrende Blicke. Er wollte mir Angst machen und mich verunsichern. Eigentlich sollte er mit auf der Anklagebank sitzen und nicht nur sein bester Freund. Jedoch spielte er in diesem Fall nur hinter den Kulissen und das war schwer nachzuweisen. Ich erlaubte mir einen Blick in seine Richtung. Er lehnte sich mit seinen Ellbogen gegen die Knie und schaute zu mir. Er lächelte, wie der Teufel seine Opfer anlächelt. Sofort wandte ich meinen Blick von ihm ab und starrte auf meine violett lackierten Fingernägel. Am besten, ich sah niemanden mehr an. (…)
Chris bekam sechs Jahre wegen Totschlag…sechs Jahre, für ein ganzes Menschenleben.

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