Montag, 2. Mai 2016
Verloren
Noah:
Sie schrieb nichts mehr. Sie existierte nicht mehr. Sie schien den Kampf gegen die finstere Welt verloren zu haben. Egal, wie sehr ich versuchte sie aus dem tiefen Loch zu ziehen, indem sie sich befand, es half nichts. Irgendwas zog sie immer wieder rein. Es war wie ein Fluch, welcher auf ihr lastete. Die Krankheit wurde schlimmer, denn sie kam immer öfter ins Krankenhaus. Ich weiß nicht genau, wie oft ich schon am Krankenbett lag und in ihre müden Augen geguckt habe. Auf jeden Fall zu oft. Irgendwann gab sie innerlich auf. Sie sagte zu mir: „Noah, wer gegen das Böse kämpft, wird automatisch zur Zielscheibe. Scheint, als hätte ich den Krieg verloren.“ Je mehr sie akzeptierte, dass das „Böse“ gewonnen hatte, desto schlechter ging es ihr.
Es war ein regnerischer Nachmittag, als ich auf dem Weg zum Krankenhaus war. Wie oft bin ich schon auf diesen Straßen gefahren? Viel zu oft aber es machte mir nichts aus, denn so konnte ich meiner Honey helfen. Ich ging durch den bekannten Flur und steuerte ihr Krankenzimmer an. Meine Haare klebten mir nass auf der Stirn, deshalb versuchte ich sie mit der Hand zu richten, bevor ich schließlich die Türe öffnete. Das Zimmer war leer und das Bett nicht benutzt. „Sie wurde bereits abgeholt“, erklärte eine Krankenschwester, die plötzlich hinter mir auftauchte. Ich drehte mich verwirrt zu ihr. Sie sah sehr jung aus und schien noch in der Ausbildung zu sein. „Von wem?“ Der Azubi dachte kurz nach und zuckte dabei mit den Schultern. „Ich glaube sie nannte ihn Henry. Bin mir aber nicht sicher.“ Henry? Wieso sollte Honey mit ihm mitgehen? Der Typ konnte nichts anderes, außer kiffen. Plötzlich ahnte ich schlimmes. Ohne noch ein Wort zu sagen, rannte ich förmlich aus dem Krankenhaus und stieg in mein Auto.


Ich:
Wann hatte ich angefangen, mich so zu verändern? Mein Herz schmerzte bei jedem Atemzug und meine Kehle brannte höllisch. All der Alkohol konnte mich jetzt auch nicht mehr retten. Also trank ich nichts, ich saß einfach auf dem Boden und sah den anderen Partygästen zu. Eigentlich sollte ich im Krankenhaus bleiben und mir vom Arzt anhören, was ich alles nicht kann. Das Ding ist, ich weiß was ich alles nicht kann. Was mir genau fehlte? Keine Ahnung. Die Zeit nahm sich, was sie kriegen konnte. Mich, voll und ganz. Noah versuchte mich immer wieder zu erreichen. Mein Handy klingelte pausenlos. Noah, mein Freund. Mein Freund, welcher alles für mich tun würde. Doch ich konnte ihm das nicht zurück geben. Niemals. Ich würde sein Leben genauso versauen, wie alle anderen Leben. Genauso, wie ich die Leben von Eric und Marvin versaut habe…wie ich mein Leben versaut habe. Gott erschuf die Welt und ich zerstörte meinen Anteil. So war der Kreislauf der Dinge. Die Partygäste füllten ihre Becher immer wieder auf. Meistens tranken sie Wodka mit Cola. Henry kniete sich neben mich auf den dreckigen Wohnzimmerboden und zog an einer Zigarette. Er trug einen dunkelgrünen Kapuzenpullover und eine schwarze Mütze, die seine Haare fast komplett verdeckte. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er hatte entweder zu viel getrunken oder gekifft. Vielleicht beides. „Du siehst echt scheiße aus. Ich kann dir auch was geben…damit du dich besser fühlst. Ist gar nicht so schlimm“, bot Henry mit einer lallenden Stimme an. Zuerst starrte ich auf den Boden, dann in seine verlorenen Augen. „Was kannst du mir geben?“, fragte ich ihn tonlos. „Du weißt schon…“, zwinkerte Henry mir verschwörerisch zu. Ich brauchte weder Alkohol, noch Drogen. Ich brauchte etwas anderes, Gefühle. Ich wollte wieder irgendwas fühlen. Also rappelte ich mich auf, legte meine Hände auf seine Schultern und zog seinen Mund an meinen. Seine Lippen schmeckten schrecklich. Nach Rum, Gras und Nikotin. Ich fühlte nur Ekel. Das reichte mir. Ich zog ihn fester an mich und setzte mich auf seinen Schoss. Zunächst war er überrascht aber gab schnell nach. So zugedröhnt wie er war, kam ihm das wahrscheinlich grade recht. Mir egal was ich fühlte, es musste nur echt sein. Plötzlich zog mich jemand auf die Beine und packte Henry an den Kragen. Noah schnaubte vor Wut. Er trug eine dunkelgraue Jacke mit Kapuze, welche er tief ins Gesicht gezogen hatte. Seine Jacke und auch seine Jeans waren nass, also musste es draußen immer noch regnen. Er drückte Henry an die Wand. Die Szene schien keinen Gast zu interessieren, denn alle tranken fröhlich weiter. „Was hast du ihr gegeben?“, fauchte Noah ihn aggressiv an. Er drückte mit seinem Unterarm gegen Henrys Kehle. Dieser bekam kaum noch Luft und riss die Augen weit auf. „Gar nichts, Mann! Komm runter!“, presste Henry hervor. „Wer´s glaubt!“, knurrte Noah darauf und holte mit seiner anderen Hand aus. „Ich bin nüchtern“, sagte ich leise und Noah hielt inne. Er drehte sich zu mir und lockerte seinen Würgegriff. Henry bekam wieder Luft und atmete hörbar aus. Es war die Wahrheit, ich war nüchtern. Traurig aber wahr. „Stimmt das?“, wollte Noah wissen und musterte mich enttäuscht. Jetzt hatte er Henry ganz losgelassen und wandte sich zu mir. Ich nickte schwach. Es tat mir nicht mal leid. „Wenn er dir Drogen gegeben hätte, dann wäre es zwar Scheiße aber…nüchtern? Das sprengt alles“, stotterte Noah vor sich hin. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er versuchte die richtigen Worte zu finden aber er schien das Sprechen verlernt zu haben. Genauso, wie ich das Fühlen. Ich ertappte mich dabei, wie ich mir wünschte, Noah würde mir eine verpassen. Nur, damit ich sowas wie Schmerz fühlen konnte. So weit war es also schon gekommen…
„Ich fahr nach Hause“, flüsterte Noah und verließ die Wohnung, ohne mich noch einmal anzusehen.
Henry kam langsam zu sich und schüttelte mit dem Kopf. „Du kannst auf der Couch schlafen, wenn die Party zu Ende ist“, sagte er und ging zu den anderen Gästen.
In dieser Nacht schlief ich nicht. Ich lag auf dem dreckigen Boden, der vom Alkohol nur so klebte und starrte an die Decke. Immer wieder brannten meine Kehle und meine Augen. Tränen flossen über meine Wangen und spülten leider nicht die Probleme weg, sondern nur den Mascara. Zwischendurch bekam ich keine Luft, doch das war mir egal. Von mir aus hätte die Nacht ewig dauern können. Die Rolle stand mir gut. Die Rolle des Mädchens, welches an Selbstmitleid stirbt.

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