Sonntag, 21. August 2016
Verlorene Hoffnung
Meine nackten Füße fühlten sich kalt an aber ich ging weiter. Der Saal war leer…so leer, wie meine Seele zu sein schien. Ich kannte diesen Saal, denn hier hatte ich meinen Abi-Ball gehabt, mit demselben Kleid, welches ich grade trug. Jedoch war der Boden mit Blut verschmiert und das Rosa meines Kleides wirkte blass und verkommen. Selten fühlte ich mich so einsam und verletzlich, wie in diesem Moment. Die Stühle und Tische standen am Rand und bildeten einen Kreis um die Tanzfläche. Schritte wurden laut. Sie übertönten das Schluchzen meiner Kehle. Eric stand hinter mir, in Anzug und Krawatte gekleidet, so als wollte er auch zu einem Ball. Seine blassen, blauen Augen musterten mich traurig. Ernüchternd wurde mir bewusst, dass es sich wieder um einen Traum handelte. Eric hielt mir seine Hand hin, so als wollte er mit mir tanzen. Dabei spielte weder Musik, noch lud das Ambiente des Raumes dazu ein, eine Runde zu tanzen. „Wieso gehst du nicht aus meinem Kopf raus?“, fragte ich ihn verzweifelt und strich über mein langes Kleid. „Die bessere Frage ist doch, wieso du nichts änderst?“, entgegnete er mir trocken, ohne sich zu bewegen. „Was soll ich denn noch ändern? Ich kann nicht mehr Eric…ich kann nicht mehr! Mein Leben pendelt hin und her. Von einem Ereignis zum nächsten. Und ich habe das Gefühl, dass ich keinen glücklich machen kann…auch, wenn ich es noch so sehr möchte“, schüttete ich mein Herz aus und ließ mich zu Boden fallen. Er kam näher und kniete sich vor mich. „Vielleicht hättest du lieber alleine bleiben sollen“, mutmaßte er mit einem mitleidigen Tonfall. „Vielleicht“, sagte ich leise. Dabei lehnte ich meine Handflächen gegen den Boden. Eine riesige Blutlache entwickelte sich unter meinem Körper. Zuerst verschwanden meine Hände in dem klebrigen Boden, dann meine Arme und schließlich mein ganzer Oberkörper, bis ich nur noch rot und dann schwarz sah. Insgeheim wünschte ich mir, wie wieder aufzuwachen.
Doch da stand ich, blutverschmiert vor Marvins Zimmertür. Das Blut tropfte auf den Boden. An dem Wandspiegel konnte ich sehen, dass meine Haare komplett verklebt waren und mein Gesicht auch. Die Wimperntusche mischte sich mit dem Blut. Dicke Ränder machten sich unter meinen Augen bemerkbar. Ich streckte meine Hand aus und öffnete die Holztür. Hinter der Couch lag Marvin, auf dem Bett. Er legte seinen Arm um ein Mädchen mit braunen Haaren. Zuerst dachte ich, ich wäre dieses Mädchen. Jedoch lag ich falsch. Als ich näher heran ging, erkannte ich ein fremdes Mädchen, welches neben ihm lag und sich in seinen Armen wiegte. Schwer schluckend begann ich rückwärts zu gehen. Dabei stieß ich gegen jemanden. Eric lächelte mich müde an, immer noch in seinem Anzug. „Das wäre das Beste, für alle. Du kannst dein Studium machen und er kriegt das, was er möchte. Hör auf Menschen zu quälen und zieh dich zurück“, meinte er eindringlich und legte mir seine Hände auf die Schultern. Dicke Tränen brannten in meinen Augen, als ich mich zu Eric drehte. „War ich wirklich so schlimm für dich?“, wollte ich wissen. Er fing auch an zu weinen…er weinte Blut. (…)
Ich schreckte auf und musste mir das Weinen angestrengt zurück halten. Marvin lag neben mir und wurde sofort mit mir wach. Natürlich fragte er mich, was ich geträumt hatte…aber darüber reden konnte ich nie. (…)
Mein Leben verlief wirklich nicht gut zu der Zeit. Ich bekam eine Absage, nach der anderen. Dabei brauchte ich dringend einen Nebenjob, damit ich mir mein Leben finanzieren konnte. Die Universität hatte mich zwar angenommen aber es fühlte sich plötzlich nichts mehr richtig an. Wieso bekam ich laufend das Gefühl, jeden Menschen unglücklich zu machen? Marvin war auch nicht zufrieden mit mir. Er wünschte sich mehr Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung, als ich ihm bieten konnte. Die Beziehung fühlte sich für mich zunehmend, wie ein Job an. Ich bekam Angst, ihn alleine zu lassen. Denn in der Einsamkeit kommen Menschen auf dumme Ideen. Damit kannte ich mich zumindest aus. Nichts gelang mir. Weder zu Hause, in der Beziehung, Zwischenmenschlich, noch beruflich. Mein Leben glich einem einzigen Tornado…aus Chaos. Das Verlangen endlich zu entkommen wurde immer größer. Doch die Frage nach dem „Wie?“ auch.
So kam es vor, dass ich mich in meinem Zimmer auf den Laminat-Boden setzte, die Augen schloss und mich an alte Zeiten erinnerte. (…)
Leah, meine beste Freundin aus Kindertagen, und ich. Sie hatte Sturmfrei und ich durfte bei ihr übernachten. Leah wohnte mit ihren Eltern in einem großen Haus. Zu der Zeit war grade herausgekommen, dass ich eine Laktoseintoleranz hatte. Deshalb saßen wir in der Küche an dem riesigen Holztisch und philosophierten, was ich nun würde essen können. Leah, die damals noch langes, dunkelblondes Haar hatte, kam dann auf die tolle Idee, Pizza zu bestellen. „Ach, komm“, sagte sie zuversichtlich. „Auf Pizza ist bestimmt nicht so viel Käse. Und in Käse nicht so viel Milch.“ Ein großer Irrtum, wie sich später herausstellte. Am Ende hing ich über der Kloschüssel und brach die ganze Nacht. Leah holte Decken, platzierte sie im Wohnzimmer auf Couch und Sessel und machte mir anschließend einen heißen Kamille-Tee. Nachdem ich alles ausgebrochen hatte, kuschelte ich mich in die Decke auf dem Sessel und nahm die warme Tasse dankend an. „Also Pizza können wir doch streichen…“, stellte Leah enttäuscht fest und setzte sich auf die Couch. Wir sahen uns alte Gerichtssendungen an. Obwohl sie tierisch müde war, blieb sie wach, bis die Schmerzen erträglicher wurden. Als draußen langsam die Sonne aufging und das Zimmer leicht erhellte, fielen unsere Augen zu, so als würden wir sofort die Dunkelheit der Nacht vermissen. (…)
Und jetzt? Jetzt sahen wir uns höchstens zweimal im Jahr. Leah lebte ihr Leben und ich versuchte mein Leben zu überstehen. Weinend ließ ich meinen Kopf gegen meine Bettkante fallen. Was war aus mir geworden? Wie kam ich da wieder raus? Ich hatte schon zu viele Menschen verloren…zu viele Seelen enttäuscht. Sobald die schlimmen Gedanken wiederkamen und mich zu ersticken drohten, schloss ich erneut die Augen und dachte an die junge Haylie. Die, mit Hoffnungen, Träumen und so viel Liebe in sich. Die, die immer lachte und freundlich zu allen war. Irgendwo in meinem Herzen musste doch noch diese Haylie sein…Irgendwo musste doch noch Hoffnung sein.

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