Freitag, 19. Februar 2016
Versuchskaninchen der Medizin
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, indem dich alle Ärzte für verrückt halten, wenn sie deiner Krankheit keinen Namen geben können. Der Zeitpunkt war wohl jetzt gekommen, denn ich sollte für einige Wochen in eine "spezial" Klinik. Eine nette Umschreibung für eine psychiatrische Anstallt.
Zu dieser Zeit wurden meine Anfälle immer schlimmer und ich ließ mich darauf ein. Wenn man jede Nacht Höllenqualen leidet, würde man alles tun, um eine Chance auf Besserung zu haben.

Mein Zimmer in dieser Klinik war zum Glück nicht so, wie ich es aus Filmen kannte. Es war schlicht eingerichtet aber sah wenigstens nicht wie eine Gefängniszelle aus. Neben meinem Bett stand noch eins. Darauf lag ein dunkel gekleidetes Mädchen mit pechschwarzen Haaren. Na super, da schlief es sich doch gleich besser! Sie sah mich neugierig an, während ich meinen Koffer neben mein Bett stellte. Der Pfleger trat neben mich und legte mir frische Bettwäsche auf das nicht bezogene Bett. "Das ist Sandra. Um 14 Uhr gibt es Essen und danach fängt dein Einzelgespräch an", sagte der Pfleger kurz und knapp. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, stellte ich mich ebenfalls vor. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass Sandras Arme tiefe Schnittwunden hatten. Sie ritzte sich also. Oh man...

Dr. Schwarz setzte sich gegenüber von mir auf einen Stuhl und holte seine Akten heraus. Er war genauso, wie man sich einen Arzt eben vorstellte. Alt und ernst. Das Zimmer war ziemlich kahl und dunkel. Es war kein Ort an dem man sich wohlfühlen konnte.
"Also...in meiner Akte steht, dass sie alle möglichen Untersuchungen hinter sich haben. Ihre Organe sind allesamt in Ordnung. Dennoch haben sie jede Nacht schmerzen?", fragte er mich formal. "Jede zweite Nacht...manchmal geht es", korrigierte ich. "Was meinen sie, woran das liegt?"
"Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier", gab ich zurück. Er lächelte leicht. "Ich muss zugeben, dass ich sowas nur selten bis gar nicht hier hatte. Sie reden hier von 6 Jahren, in denen sie jeden...zweiten Tag diese Symptome aufweisen. Das ist heftig", gab er zu und beäugte mich neugierig. "Es schränkt einen ein aber wenn man kämpft, kann man damit leben. Ich will es nur nicht mehr", gestand ich leise. Er lehnte sich auf den Tisch vor uns und verschränkte seine Finger ineinander. "Gut, erzählen sie mir ihre Geschichte. Ich möchte lernen, sie zu verstehen."

Nach unserem Gespräch über meine nicht vorhandene Familie und sonstigen Ereignissen meines Lebens, lehnte sich Dr. Schwarz auf seinem Stuhl nach hinten. Er dachte über das Gesagte nach. "Jetzt nachdem ich ihre Geschichte gehört habe verstehe ich, woher die Schmerzen kommen aber nicht woher sie ihre Kraft beziehen." Er verstand nichts. Ich wusste nicht wieso aber mir war sofort klar, dass er mir nicht würde helfen können. Irgendwann würde ihm bewusst werden, dass die Schmerzen bleiben und dann würde er, genau wie die anderen Ärzte, in seinem Tabletten-Schrank wühlen. "Ich meine, sie haben niemanden auf den sie zählen können. Sie sind sehr oft alleine. Dennoch kämpfen sie und haben die Kraft weiterzumachen", stellte er erstaunt fest. "Ich habe mir die Rolle der Kämpferin nicht ausgesucht", bemerkte ich schroff. Bewunderung brachte mir nichts. "Sie haben die Rolle aber angenommen...", fing er an, bis ich aufstand. "Ja, mir blieb nichts anderes übrig! Ich habe es für meine Familie getan, auch wenn die sich einen Dreck um mich Scheren. Ich musste weitermachen, es wenigstens versuchen. Aber ich will keine Bewunderung dafür, sondern eine Lösung. So ein Leben zu führen, mit all den Schmerzen und Erinnerungen...es kostet einen zu viel Energie."

Der Arzt versprach mir, eine Lösung zu finden aber er würde es nicht schaffen. Das wusste ich mit jeder Zelle meines Körpers. Ärzte waren überfordert mit mir. Überall wo ich hin ging sagte man mir, man hätte sowas noch nie gesehen. Sowas hatten sie wohl im Studium vergessen und ich wurde zum Versuchskaninchen der Medizin.
Einige Tage blieb ich noch in der Klinik, dann entließ ich mich selbst. Es machte mich krank dort zu sein. Jeder sagte mir immerzu das Gleiche und jeder bewunderte mich. Dabei wollte ich nie eine Kämpferin dieser Art sein. Ich wollte nicht für etwas bewundert werden, wozu ich jeden Tag gezwungen wurde. Nämlich stark zu sein.

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