Samstag, 23. Juli 2016
Verwirrung
Selbst in den frühen Morgenstunden konnte ich nicht schlafen. Zu viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Als ich mich grade zur Seite drehen wollte, um eine angenehmere Position zu haben, hörte ich das Klopfen. Es kam aus dem Käfig meines Kaninchens. Erschöpft rappelte ich mich auf, machte das Licht an und kniete mich vor den Käfig. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte ich Luna, natürlich ohne eine Antwort zu erwarten. Sie saß im Käfig, wie erstarrt, und atmete schnell. So panisch hatte ich sie noch nie erlebt. Normalerweise war sie ruhig und handzahm. Besorgt öffnete ich das Gitter und wollte sie streicheln. Plötzlich preschte sie an mir vorbei und rannte durch mein Zimmer, als wollte sie etwas töten. „Hey…was hast du denn? Es ist doch alles gut“, sagte ich leise. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wir waren nicht allein.
Langsam streckte ich meinen Arm aus, sodass ich mit den Fingern ihre Nase berühren konnte. Das schien sie etwas zu beruhigen. Doch die Anspannung lag noch in der Luft. „Du benimmst dich, als hättest du einen Geist gesehen“, flüsterte ich müde und sah mich im Zimmer um.
Plötzlich hörte ich einen ohrenbetäubenden Schrei von draußen. Sofort sprang ich auf, rannte zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite, damit ich einen Blick auf die Straße vor der Wohnung erhaschen konnte. Ein kleines Mädchen rannte über die Straße zum Haus, welches sich neben unserer Wohnung befand und eigentlich leer stand. Sie gab ängstliche Laute von sich. Ich konnte nicht einfach wegsehen und musste raus. Es war dunkel und anscheinend hatte niemand den Schrei gehört, außer mir. Entschlossen schaute ich auf den Boden, auf dem Luna saß und mich erwartungsvoll anstarrte. „Ich gehe ja schon“, sagte ich und nahm mein Handy. Vielleicht würde ich die Polizei anrufen müssen. Ich behielt meine kurzen Schlafshorts und das dünne Top an. Draußen war es sowieso dunkel und sehr warm. Das hieß, mich würde keiner richtig sehen und frieren würde ich ebenfalls nicht. Vor lauter Stress vergaß ich auch, meine Schuhe anzuziehen. Also ging ich barfuß nach draußen und erleuchtete mir mit meinem Handy den Weg.
Ein wimmern kam aus dem Garten des verlassenen Hauses. Das Haus sah in der Dunkelheit noch mehr aus, wie ein Geisterhaus. Die Fassade war schon bei Tageslicht gruselig und definitiv nicht einladend. Nervös kletterte ich über den schmalen Zaun, der mich von dem Grundstück trennte. Ich schlich um das Haus herum und versuchte etwas zu erkennen. Der Weg in den Garten war extrem verwachsen und dreckig. Meine Füße würden nach dem Trip echt schmutzig sein und vielleicht auch verletzt, denn immer wieder trat ich auf scharfkantige Äste.
Da sah ich sie. Das Mädchen stand vor dem Schuppen im Garten und starrte auf die verschlossene Türe. Sie hatte dunkelbraunes, langes Haar, das mit einer Schleife nach hinten gebunden war. Komischerweise trug sie ein altmodisches Kleid in einem eher hässlichen Gelb. Das Mädchen war höchstens neun Jahre alt und machte den Eindruck, dass sie nicht aus dieser Zeit kam. Dennoch weinte sie und ich musste ihr helfen. Kleine Mädchen sollten um diese Uhrzeit zu Hause sein und seelenruhig schlafen. „Hey…ist alles in Ordnung bei dir? Ich kann dir helfen“, machte ich mich bemerkbar und leuchtete mit meinem Handy auf den Schuppen. Das Mädchen drehte sich langsam um. Was ich jetzt zu sehen bekam, ließ mich daran zweifeln, ob ich wirklich wach war. Ihr Gesicht war voller Blut. Als ich genauer hinsah, erkannte ich die Schusswunde, mitten auf ihrer Stirn. Mir drehte sich der Magen um und bald darauf übergab ich mich in den Busch neben mir. Was ging hier vor sich? Nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte, rannte jemand an mir vorbei. Geschockt schrie ich auf und leuchtete wieder auf das Mädchen. Vor ihr stand jetzt ein Mann mit einem Revolver und zielte direkte auf ihr Gesicht. Das musste ein Traum sein. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Grade, als ich dachte er würde schießen, drehte er sich in meine Richtung. Der Mann sah aus, wie aus einem echt guten Western-Film. Lange konnte ich ihn jedoch nicht bewundern, denn er richtete die Waffe auf mich. Noch bevor ich verstehen konnte, was grade geschah, feuerte er los. (…)
Ich rang nach Luft und zog heftig an dem Vorhang, den ich fest umklammert hielt. Verwirrt schaute ich mich um. Luna war grade damit beschäftigt zu gähnen und anschließend ihr braunes Fell zu putzen. Ich war in meinem Zimmer? Mitgenommen sah ich durch das Fenster auf die Straße und erwartete, ich würde gleich das Mädchen sehen. Aber die Straße war leer und still. Luna schien auch wieder normal zu sein, denn sie kuschelte sich grade an meine nackten Füße. Meine Atmung normalisierte sich allmählich. Anscheinend hatte ich doch nur eine Art Tagtraum gehabt oder sowas…
Doch als ich nach unten sah, weil ich Luna streicheln wollte, fiel mein Blick automatisch auf meine Füße. Meine Füße waren dreckig und zerkratzt. (…)

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