Sonntag, 4. September 2016
Walk of Shame
Da saß ich nun…auf dem Flurboden von Marvins Haus und starrte den Wandspiegel an, der mir eine perfekte Sicht auf mein Erscheinungsbild lieferte. Marvin saß neben mir, gezeichnet von der langen Partynacht, die wir beide hinter uns hatten. Ich begann meine Schuhe zu mustern, die ich mir grade angezogen hatte. Die Nacht hatte dafür gesorgt, dass diese ganz dreckig waren. Sowohl an der Sohle, als auch vorne an der Spitze. Sofort verzog ich meinen Mund, weil mir dieser Anblick nicht gefiel. Denn ich erinnerte mich an die Zeit, in der ich diese „Elfen-Schuhe“ gekauft hatte. (…)
Den ganzen Nachmittag verbrachten Zeynep, Noah und ich in dem Schuhgeschäft. Zeynep und ich probierten einen Schuh nach dem anderen an, während Noah auf einem Hocker in der Ecke saß und etwas auf seinem Smartphone spielte. Zeynep stand vor dem kleinen Spiegel und betrachtete ein Paar rote High Heels, die ihr etwas zu groß schienen. Generell passten sie nicht zu ihrer Persönlichkeit. Da entdeckte ich meine Schuhe. Es war das letzte Paar. Ich nahm sie aus dem Regal und zog sie an. Hierbei handelte es sich um weiße Turnschuhe, die mit violetten Blümchen verziert waren. Zeynep warf ihre dunklen Haare nach hinten und sah auf meine Füße. „Das sind voll die süßen Elfen-Schuhe! Die passen zu dir“, pflichtete sie mir begeistert bei. Noah schaute auf und zog eine Augenbraue hoch, als er uns beide ansah. „Haylie und eine Elfe? Ja ne, ist klar!“, neckte er mich und grinste. Ich streckte ihm die Zunge raus und kaufte diese Schuhe. Auch ich wollte einmal eine Elfe sein. (…)
Und jetzt waren sie dreckig. Dreckig von einer Partynacht. Die unschuldige Elfe schien weit weg zu sein und ein neues, undefinierbares Monster zeigte sich. Marvin und ich hatten uns kaum etwas zu sagen. Mir war nicht mal bewusst, weshalb die Beziehung zwischen uns an dem Tag so seltsam war. Ich fühlte mich nicht wohl aber das konnte auch an dem Restalkohol liegen, der durch meine Blutbahnen sickerte. Wie dem auch sei, ich musste raus. Ich musste frische Luft atmen und konnte seine mischblauen Augen nicht sehen, die sich so sehr nach Liebe sehnten, dass mir schlecht davon wurde. Manchmal bekam ich das Gefühl, dass ich nur eine Tagesdosis an Liebe hatte, die ich gut aufteilen musste. Manchmal besaß ich eine große Ration Liebe, manchmal eine kleine. So genau konnte ich es nicht sagen. Ich verließ Marvin mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas stimmte nicht…doch wollte ich die Antworten auf die Fragen wissen, die unausgesprochen blieben? (…)
Das Laufen schien mir eine gerechte Strafe zu sein. Ja, eine Strafe, die ich mir selbst geben wollte. Ich musste diesen langen Weg nach Hause einfach laufen. Erstens, um den Kopf irgendwie frei zu bekommen, und zweitens, um den traditionellen, sonntäglichen „Walk of Shame“ zu gehen. Jeden Sonntag liefen sogenannte Schnapsleichen nach Hause, in der Hoffnung, die frische Luft würde ihren pochenden Köpfen gut tun. Jetzt gehörte ich wohl dazu, mit meinen verdreckten Schuhen, dem blassen, müden Gesicht und den ungekämmten Haaren, die ich mit einer großen Spange und einer Schleife nach hinten gesteckt hatte.
Ich lief an der Hauptstraße entlang, wo empörte Senioren mir Blicke zuwarfen, die genau wussten, was ich die letzte Nacht getrieben hatte. Aus jedem fahrenden Auto wurden mir Blicke zugeworfen und ich wünschte mir, ich hätte mir nicht die engen Leggins angezogen. Mein Hintern wurde anscheinend zu einer Zirkus- Attraktion, weshalb ich mein langes, graues T-Shirt weiter nach unten zog. Müde hastete ich durch die Straßen der hemmungslosen Stadt. Mit jedem Schritt taten mir meine Beine und Füße mehr weh, meine Lunge stach und mein Magen rebellierte gegen jeden Meter. Mein Gehirn hämmerte gefühlt gegen meinen Schädel. Doch das hatte ich mir selbst zuzuschreiben und wirklich verdient.
Zum Glück wehte ein frischer Wind, der mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht blies.
Es dauerte nicht lange und ich lief auf meiner Straße und erkannte bald darauf meine Wohnung. Eine alte Frau, die damals auch immer zur gleichen Zeit aus dem Fenster geschaut hatte, als ich von der Schule nach Hause lief, starrte mich an, als ich an ihrem Haus vorbeikam. Damals hatte ich sie immer angelächelt, mit stolzen Schritten und dem Rucksack auf dem Rücken, welcher mit Zukunftsträumen vollgestopft gewesen ist. Nun konnte ich ihr nicht in die Augen sehen, sondern starrte nach unten, auf meine gezeichneten Schuhe.
In einem halben Jahr hatte sich mein Leben komplett verändert. Ständig ging ich auf Partys, obwohl ich die Gastgeber nicht einmal richtig kannte, geschweige denn die Gäste. Ich versuchte mich anzupassen, versuchte Marvin glücklich zu machen, indem ich auf fremde Mädchen zuging und mich mit ihnen unterhielt. Ich wollte ihm zeigen, dass ich wie ein normales Mädchen Freundinnen finden konnte, mit denen ich dann irgendwann „Mädels-Abende“ veranstalten konnte. Wir würden uns über gewöhnliche Themen unterhalten…sowas, wie Mode, Jungs und Promis. So würde mein Leben aussehen. Das würde Marvin glücklich machen. Er müsste sich nie mehr Sorgen machen, ich könnte mich womöglich in einen meiner männlichen Freunde verlieben.
Erschöpft setzte ich mich auf den Bordstein vor meiner Wohnung. Mein Auto stand neben mir, sodass ich meinen Kopf gegen den Scheinwerfer lehnen konnte. Es war echt anstrengend normal zu sein. „Wilde Partynacht?“, fragte plötzlich eine Jungenstimme neben mir. Ein Nachbarjunge, ein Jahr jünger als ich, kam auf mich zu. Mirko trug Sportklamotten und eine dazu passende Tasche, die über seinen breiten Schultern hing. „Sieht man das echt so stark?“, wollte ich niedergeschlagen wissen. „Ein bisschen aber ist ja nicht schlimm“, meinte er, als er neben mir stehen blieb. „Willst du nicht rein gehen? Es sieht nach Regen aus.“ Ich schaute nach oben und sah die graue Wolkendecke, die über uns schwebte. „Ich bleib noch etwas sitzen“, stellte ich fest. „Na gut, ich lass die Eingangstüre aber offen. Gute Besserung!“, verabschiedete er sich freundlich und ging Richtung Hof.
Ich schloss meine Augen, hörte dem Wind zu, der die Blätter raschelnd durch die Straßen fegte, und konnte es hören. Wie, als würde es direkt neben mir sitzen und mir helfen wollen, mich zu entspannen. „Wie viel bist du bereit für Liebe zu geben?“, flüsterte eine Stimme in mein Ohr. „Wie viel Liebe bekomme ich in diesem Leben?“, stellte ich mir in Gedanken die Frage. „So viel du möchtest, wenn du bereit bist, dich selbst zu finden“, antwortete die Stimme. „Wie viel bist du bereit zu geben, um dein Ziel zu erreichen? Die Aufgabe zu erfüllen, mit der du hierhin geschickt wurdest?“ Entschlossen öffnete ich meine Augen und schaute mich kurz um, weil die Stimme so klar und real war. Anschließend stand ich auf. „Ich bin bereit alles zu geben“, sagte ich laut und deutlich.

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