Donnerstag, 10. März 2016
Wie immer
Mit letzter Kraft griff ich nach meinem Stift. Warum mussten diese Anfälle immer im falschen Moment kommen? Ich saß mitten im Unterricht und jeder war in seinen Arbeitsauftrag vertieft. Man hörte nichts, außer die Stifte, die über das Papier gezogen wurden. Ich versuchte wirklich mich auf den Text zu konzentrieren und nicht zu schreien. Die Lehrerin beäugte mich kritisch und machte eine auffordernde Geste. Am liebsten hätte ich den Tisch umgeworfen und wäre raus gestürmt. Meine Fingernägel bohrten sich in meinen Bauch, als ich versuchte mich zusammenzureißen. Es half alles nichts, es fühlte sich wiedermal an, wie ein Messer. Ein Messer, das tief in meinem Bauch steckte. Ruhig versuchte ich ein- und auszuatmen. Plötzlich merkte ich, wie die Lehrerin sich vor meinem Tisch aufbaute. Na, toll. Mit strengem Blick begutachtete sie meine Arbeit. Ich hatte kaum etwas geschrieben, weshalb sie kritisch ihre Augenbrauen hochzog. „So wird das ganz sicher nichts, mit dem guten Abschlusszeugnis. Faulheit hilft dir da nicht weiter“, sagte sie abfällig. Faulheit?! Mit welchem Recht betitelte sie mich als faul? Die Schmerzen waren vergessen, denn jetzt zitterte ich vor Wut.
Die Stunde war zu Ende und ich begann meine Sachen aggressiv in den Rucksack zu stopfen. Sowas würde ich mir nicht länger gefallen lassen! Energisch trat ich an den Lehrerpult und warf der Lehrerin einen finsteren Blick zu. Jetzt war ich an der Reihe. „Meine Meinung ist auch von Bedeutung. Und meiner Meinung nach, habe ich mich in den letzten Wochen enorm verbessert. Ich bin weder faul, noch dumm. Deshalb habe ich eine gute Abschlussnote verdient und dazu stehe ich“, stellte ich selbstsicher fest. Die Lehrerin blätterte in ihren Unterlagen und zog erneut ihre Augenbraue hoch. „Also ich kann das nicht bestätigen. Es reicht nicht für eine gute Note, denn manchmal machst du nichts.“ Sollte das ein schlechter Scherz sein?! Ich durfte die Fassung nicht verlieren, immerhin stand ich vor einer Respektperson. Also atmete ich nochmal durch, bevor ich sagte: „Ich habe jede Stunde mitgearbeitet und bin der festen Überzeugung, dass ich Anerkennung dafür verdient habe.“ Die Lehrerin begann ihre Unterlagen in die Tasche zu packen. Der Klassenraum war bereits leer. „Faulheit zwischendurch kann die Note eben runter setzen“, bemerkte sie gleichgültig. Faulheit? Wie ich dieses Wort hasste! „Es reicht! Ich bin nicht faul! Das ist das Letzte, was ich bin. Ich stehe jeden Morgen auf und gebe hier verdammt nochmal mein Bestes, auch wenn ich vor Schmerzen schreien könnte! Von mir aus bleibt es bei dieser ungerechtfertigten Note aber ich lasse mir nicht nachsagen, dass ich faul wäre“, platzte mir endgültig der Kragen. Mit großen, erstaunten Augen ließ ich sie im Klassenraum zurück und stürmte raus. Ich hatte es satt behandelt zu werden, als wäre meine Meinung nichts wert.

Im Auto angekommen ließ ich mich im Sitz nach hinten fallen und schloss meine Augen. Es musste doch ein anderes Leben geben, als so eins. Jeden Tag versuchte ich die Aufgaben zu erfüllen, dennoch war es nicht genug. Es würde niemals genug sein.
Ich fuhr nach Hause und war erleichtert, dass Noah diesmal nicht auf mich wartete. Nach der Trauerfeier hatte ich noch einige Worte mit den Mädels gewechselt und bin dann zurück zur Schule gefahren. Den ganzen Tag über ignorierte ich die Leere, die sich in mir breit machte.
Ich lernte für die Schule und besorgte Lebensmittel im Supermarkt. Hauptsache ich saß nicht alleine im Zimmer und dachte nach.

Am späten Abend bekam ich erneut einen Anfall und krümmte mich vor Schmerzen. Ich lag auf dem Badezimmerboden und weinte. Ich weinte wegen der Erschöpfung und weil ich es satt hatte, Menschen zu vermissen. Wieso konnte ich nicht einfach abschließen? Auf einmal knallte es in der Küche und es hörte sich an, als würde Glas zerspringen. Mein Opa fluchte und musste heftig husten. Ich rappelte mich auf und ging zu ihm. Er hielt sich grade am Küchentisch fest und rang nach Luft. Eine Tasse war zu Boden gefallen, sodass überall Scherben lagen. Meine Schmerzen waren vergessen und ich versuchte auf Zehenspitzen zu meinem Opa zu gehen. Als ich neben ihm war, führte ich ihn ins Wohnzimmer. Dort half ich ihm, sich auf die Couch zu legen und breitete die Decke über seinen Körper aus. „Ich glaube, ich habe die Grippe“, stellte er erschöpft fest. Er sah nicht gut aus, ganz blass und kaputt. Ich schaltete den Fernseher ein und reichte ihm die Taschentücher vom Wohnzimmertisch. „Warte hier“, wies ich ihn an und ging in die Küche, wo ich den Wasserkocher einschaltete. Danach holte ich Tabletten aus meinem Zimmer, die mir bei meiner letzten Grippe sehr gut geholfen hatten. „Schluck eine davon, dann wird es dir bald besser gehen“, bemerkte ich fürsorglich und gab ihm eine Tablette in die Hand. Er fragte gar nicht erst, was ich ihm da gab. Er vertraute mir und ihm ging es wirklich schlecht. Nachdem ich einen Tee gemacht hatte, sah er mich dankbar an. „Du machst mich wieder gesund“, sagte er erleichtert. „Ja, du wirst wieder gesund“, versprach ich ihm und ich meinte es so. Egal, wie sehr ich mich hängen ließ, meine Familie konnte sich auf mich verlassen.
Ich ging in die Küche, um die Scherben aufzusammeln und räumte bei der Gelegenheit die Spülmaschine aus. Solange mein Opa sich im Wohnzimmer quälte, würde auch ich nicht schlafen gehen. Die Schmerzen waren noch da. Die Müdigkeit war enorm. Alles war, wie immer.

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