Sonntag, 14. Mai 2017
Willkommen in meiner Welt
Es ist schlimm, wenn man sich in der eigenen Familie nicht willkommen fühlt. Und es wird schlimmer, wenn man anfängt sich nirgends mehr willkommen zu fühlen. Grade als überzeugte Christin ging es mir sehr nahe, denn in der Bibel wird viel von Familie und Liebe berichtet. Für mich waren beide Dinge nur ein Mythos. Mittlerweile fühlte ich mich sogar in meiner eigenen Haut unwillkommen und sogar in meinen Träumen. (…)
Ich hatte die Exfreundin von meinem Onkel schon lange nicht mehr gesehen. Sie waren lange zusammen gewesen, bevor es zu Ende ging. Ganze 12 Jahre. Jetzt, in meinem Traum war sie alt geworden und ihr Gesicht war ganz fahl. Ihre einst blonden Haare waren jetzt aschgrau und auf ihrer Haut bildeten sich tiefe Falten. Wir standen vor meinem Arbeitsplatz und sie zeigte mit ihrem knochigen Zeigefinger auf den Garten neben uns.
Dort hingen sie…alle an einem Baum. Die Stricke waren an dicken Ästen fest gemacht und meine gesamte Familie hing kreuz und quer im Garten verteilt. Ihre nackten Füße baumelten in der Luft, während ihre Augen weit geöffnet waren, jedoch sehr kalt und Tod wirkten. Alle waren blass. Alle waren Tod. (…)
Als ich wach wurde hockte ich noch einige Minuten auf meiner Bettkante und versteckte mein Gesicht in meinen Handflächen. Ein schwacher Versuch die Bilder in meinem Kopf zu löschen. Natürlich war ich am Ende wieder spät dran und hetzte zu meinem Auto. Ich war noch nie zu spät auf der Arbeit erschienen, egal wie schlecht es mir gegangen war. Höchstens wenige Sekunden. Daran sollte sich nichts ändern. Zumindest in der Kita fühlte ich mich willkommen. Kinder schämten sich nicht zu lachen und Liebe zu zeigen.
Ich parkte auf meinem Stammparkplatz und kramte meine Tasche und meinen Kaffee im Thermo-Becher aus dem Wagen.
Jessica, eine Freundin die im Kinderheim daneben arbeitete, wartete bereits einige Meter entfernt auf mich. Manchmal war sie früh dran, wenn ich spät dran war und wir sahen uns für wenige Minuten. Sie hatte ein freiwilliges, soziales Jahr begonnen. Auf den ersten Blick wirkte sie für viele vermutlich eingebildet. Sie trug ihre braunen Haare immer mit einem Mittelscheitel und war immer sehr stark geschminkt. Aber man soll nie über einen Menschen urteilen, wenn man den Charakter noch nicht kennt. Eigentlich sollte man überhaupt nicht über andere urteilen aber das liegt wohl in der Natur des Menschen. Ich war grade dabei mich von meinem Auto zu entfernen, da fiel mir wieder diese Frau auf. Sie stand jeden Morgen neben der Grundschule, hielt sich am Lenkrad ihres alten Fahrrads fest und hatte diesen traurigen Blick. Ihre hellen Haare waren immer zu einem strengen Dutt gebunden und unter ihren blauen Augen hatte sie zwei tiefe Falten, die eher aussahen, wie Sorgenfalten. Mein Schritt wurde langsamer, als ich die Frau musterte. „Was ist mit dir? Willst du absichtlich zu spät kommen? Bist du etwa heute unmotiviert?“, hörte ich plötzlich Jessica neben mir fragen. Erschrocken starrte ich sie an. „Eh…ne. Aber diese Frau ist irgendwie gruselig. Die steht da fast jeden Morgen gleich“, stellte ich fest und zeigte mit meinem Daumen hinter mich. „Weißt du was gruselig ist? Du. Da ist niemand“, meinte Jessica mit einem Blick hinter mich. Ich drehte mich ruckartig um und die Frau war echt verschwunden. „Ist die mit ihrem Fahrrad weg gefahren?“, fragte ich Jessica verdutzt. Jessica hakte sich bei mir ein und zog mich Richtung Arbeit. „Du brauchst Schlaf. Da war keine Frau mit Fahrrad“, meinte sie belustigt. Doch, da war eine Frau gewesen. Insgeheim wünschte ich mir, dass diese Frau einfach nur außergewöhnlich schnell Fahrrad fahren konnte. (…)
Auf der Arbeit nahmen meine Kopfschmerzen zu und in meiner Mittagspause musste ich mir einen Heulkrampf verkneifen. Innerlich fühlte ich mich einfach so leer und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich selbst Marvin nie vertrauen würde. Er traf sich an dem Tag mit einem Freund und anstatt etwas Sinnvolles zu tun, gingen sie in die Shisha-Bar. Das war mein Leben? Kuriose Träume, innerliche Leere, seltsame Frauen mit Fahrrad und ich hatte einen Freund, bei dem ich das Gefühl hatte, er dächte nicht nach, sondern liefe einfach seinen Freunden hinterher. Super. Mir war klar, dass ich seine Entscheidungen nicht würde ändern können aber diese Sinnlosigkeit, die tief in mir drin saß und mich zu ersticken drohte, wurde von Minute zu Minute schlimmer. Irgendwie schaffte ich den Arbeitstag aber zu Hause explodierte ich. (…)
Da war ich nun…ich wusste nicht wie viel Zeit vergangen war. Ich hatte einen Black-out bekommen und war völlig durchgedreht. Völlig wahnsinnig war ich in mein Auto gestiegen, mit dem Ziel mich umzubringen. Am Ende stand ich auf einer Wiese, mein Auto neben einer Schnellstraße geparkt, und erbrach mich. Die Leute starrten aus ihren Autos, sahen das verzweifelte Mädchen, welches den Rest ihres Lebens auskotzte, aber sie hielten nicht an. Sie fragten nicht, ob sie noch irgendetwas retten konnten. Innerlich erklärten sie mich bereits für Tod. Für die Menschen war ich in dem Moment nicht mehr, als ein gescheiterter Teenager. Die konnte man nicht mehr retten, oder? Vielleicht dachten sie ich hätte einfach nur zu viel getrunken und müsste jetzt dafür büßen. Aber ich war nüchtern und das war das tragische. Ich brauchte keinen Alkohol, um meine Gedanken zu verschleiern. Die waren auch ohne fremde Substanzen benebelt.
Ich brachte mich an diesem Abend nicht um, sondern stieg in meinen Wagen und fuhr nach einiger Zeit nach Hause. Dort stand ich vor meinem Spiegel und sah mich einige Zeit an.
Die Augen komplett angeschwollen, es befanden sich rote Striche an meinen Wangen und mein Mascara sorgte jetzt dafür, dass ich aussah, wie ein sehr trauriger Panda. Doch meine geröteten Augen verrieten so viel mehr. Die eiskalte Leere in ihnen würde kein Mensch mehr füllen können. (…)

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