Montag, 4. April 2016
Zeit läuft ab
„Warum mache ich das alles?“, wollte Noah verzweifelt wissen. Jetzt platzte die Bombe, die sich über Monate aufgeladen hatte. Es war Nacht und wir standen beide auf der leeren Straße vor meiner Wohnung. Es regnete, doch sonderlich kalt war es nicht. Nachdem ich Noah wiedermal aus dem Weg gegangen war, stand er vollkommen ratlos da und starrte mich an. Er trug das dunkelgrüne Shirt, welches ich so liebte. Seine braunen Haare klebten nass auf der Stirn. Dadurch konnte ich vermuten, dass er viel länger draußen unterwegs gewesen ist, als ich. „Warum renne ich dir die ganze Zeit hinterher? Wieso kümmere ich mich um dich? Wieso kann ich dich nicht alleine lassen? Nicht mal nachdem ich erfahren habe, dass du dich mit einem anderen triffst? Wieso bin ich so abhängig von deinem lachen? Warum bin ich in dich verliebt?“ Während er die Fragen auflistete, brach seine Stimme. Noah steckte seine Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans und wandte seinen Blick ab. Geschockt von diesem Gefühlsausbruch ging ich auf ihn zu. Wir standen immer noch mitten auf der Straße. Doch um diese Uhrzeit würde sowieso kein Auto mehr auftauchen. Generell schien die ganze Stadt zu schlafen. Nur wir waren noch wach. Wir und meine Probleme. Ich legte meine Arme um seinen Körper und meinen Kopf auf seine Brust. Sein Herz pochte an meinem Ohr. „Das passiert, wenn man sich in emotional gestörte Menschen verliebt. Man wird verletzt“, stellte ich mit Bedauern fest. „Ich mache das nicht mit Absicht. Es passiert einfach. Ich weiß nicht genau, was ich möchte. Das Einzige was ich weiß ist, dass ich dich nicht auch noch verlieren will. Es ist egoistisch von mir, denn ich verletze dich immer wieder.“ Noah drückte mich leicht weg. Damit signalisierte er mir, dass er Abstand wollte. „Ich kann das nicht mehr. Sorry“, sagte er mit bebender Stimme. „Ich muss hier weg.“ Dann tat er etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Noah drehte sich um und wollte mich alleine lassen. Alleine in der Dunkelheit. Er hatte sein Auto schon fast erreicht, da sagte ich: „Ich liebe dich.“ Wie von einer Kugel getroffen blieb er stehen und drehte sich langsam um. „Sag das nochmal“, verlangte er skeptisch. „Ich liebe dich, Noah“, wiederholte ich, diesmal deutlicher. „Aber wir können nicht zusammen sein“, fügte ich schnell hinzu. Sein Gesichtsausdruck blieb ausdruckslos, als würden wir grade über das Wetter sprechen. „Und warum diesmal nicht?“, fragte er nachdenklich. „Ich kann keine Beziehungen führen“, bemerkte ich und ging auf der Straße hin und her. „Ich müsste eigentlich noch so viel lernen aber schreibe Morgen schon meine Abschlussprüfung! Wie soll ich das denn schaffen? Und die Sache mit meiner Gesundheit ist immer noch aktuell.“ Noah schüttelte seinen Kopf und lächelte dabei. Er kam wieder auf mich zu. „Ich kenne mich mit deinem Leben bestens aus.“ Auf einmal war die Wut verschwunden und er reichte mir wieder seine Hand. „Ich hab eine Idee, komm mit!“
Wir gingen durch den großen Wald, der sich vor meiner Wohnung erstreckte. Nach einigen Minuten des Schweigens befanden wir uns vor einem Seeufer. Das Wasser lag ruhig vor uns und spiegelte das Mondlicht, sodass wir nicht in der Finsternis verschwanden. Es hatte aufgehört zu regnen. Noah legte seine Hände auf meine Schultern und schob mich bis zum Rand des Ufers. „Was siehst du?“ Verwirrt schaute ich nach vorne. „Ehm…Wasser“, antwortete ich knapp. „Beschreib es genauer. Geh auf die Geschichte ein. Von mir aus kannst du dir auch was dazu ausdenken“, sagte er mit Nachdruck. Also sah ich genauer hin und betrachtete das Stück Natur, welches vor mir lag. „Es ist ein See, im Herzen eines großen Waldstücks. Das Wasser wiegt die Enten hin und her. Jedoch sanft, wie eine Mutter, die ihr Kind in den Schlaf singt. Auf dem See befindet sich eine kleine Insel, die mit Bäumen bewachsen ist. Ich stelle mir immer vor, dass die Enten dort wohnen. Das Wasser, welches oberflächlich betrachtet wunderschön ist, wird immer mehr von den Menschen verschmutzt. Man merkt es an den wenigen Enten, die übrig geblieben sind. Aber besonders merkt man es an dem Müll, der ans Land gespült wird. Es ist, als wollte das Wasser dem Menschen seinen Mist zurück geben.“ Nach einem kurzen Moment der Stille stellte sich Noah neben mich und grinste. Ich sah ihn verwundert an. „Was hast du eben gemacht?“, wollte er stolz von mir wissen. „Ich habe deine Frage detailliert beantwortet.“ Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte. „Nein, du hast analysiert. Ich habe dir das Bild von diesem See gegeben und du hast es beschrieben und diese Beschreibung weiter ausgebaut. Und was macht man in dieser Abschlussprüfung? Richtig, man analysiert. Und das kannst du!“, erklärte Noah beeindruckt. Was zunächst aussah, wie eine banale Beschreibung von Wasser, entpuppte sich als Motivationsversuch. „Wow, du bist unglaublich“, lachte ich. „Ich weiß“, stieg Noah in mein Lachen mit ein. „Gut, wenn ich dir jetzt das Bild von >>Kabale und Liebe<< in den Kopf setze. Was fällt dir spontan dazu ein?“ Ich neigte meinen Kopf zur Seite und dachte angestrengt darüber nach. „Naja, mir fallen die Namen Ferdinand und Luise ein. Ferdinand gehört zum Adel, während Luise eine bürgerliche ist. Die Väter wollen aus unterschiedlichen Gründen nicht, dass beide zusammen bleiben, also schmieden sie Intrigen. Es ist eine Gesellschaft, eingeschränkt von der Ständeordnung und von unterschiedlichen Vorstellungen von Religion und Ehre.“ Noah klatschte begeistert in die Hände. „Und das kam jetzt komplett spontan. Du wirst es schaffen.“ Überwältigt von der Erkenntnis, dass ich es doch schaffen könnte, wurden meine Augen nass. Ich nahm Noahs Gesicht in beide Hände und küsste ihn. Eins wusste ich: bald würde ich mich entscheiden müssen. Es war außer Frage. Ich hatte starke Gefühle für Noah und ich genoss die Zeit mit ihm. Doch Zeit hat eine heimtückische Seite. Zeit läuft ab.

... link