Sonntag, 21. Februar 2016
Zurück zur Kirche
Die Wiese unter meinen Füßen war ausgetrocknet. Der Nebel wurde immer dichter und man konnte kaum etwas sehen. Als ich mich umsah bemerkte ich ein kleines Mädchen, dass genauso aussah wie ich damals. Es war eine junge Version von mir. Ihre hellbraunen Haare waren zu einem Zopf gebunden und die dunkelbraunen Augen strahlten mich unschuldig an. "Du bist ich", stellte ich fest, als das Mädchen vor mir stehen blieb. Sie sah sich enttäuscht um. "Ja aber damit du nicht durcheinander kommst, kannst du mich einfach Anastasia nennen", schlug sie mit meiner Stimme vor. Sie war nicht älter als 8 Jahre. Es war typisch, dass sie den Namen "Anastasia" wählte, denn als kleines Mädchen hatte ich mir immer vorgestellt ich wäre die Zarentochter Anastasia. Das war definitiv ich.
"Du kannst es besser, als das hier", sagte Anastasia und schaute sich in der Nebellandschaft um. Ich konnte einfach nicht aufhören, sie anzustarren. Sie war noch so voller Hoffnung und Leben. Anders als ich. Anastasia hatte ein weißes Kleid an, dass ich mal zur Kirche anhatte. "Was meinst du damit, dass ich es angeblich besser kann?", fragte ich nach einer langen Pause. "Hier gibt es nur tote Wiese und überall ist Nebel. Du bist echt sehr traurig...sonst würdest du sowas nie erschaffen. Dabei kannst du so viel mehr!", stellte sie fest und sah mir tief in die Augen. "Versuch dir eine grüne Wiese vorzustellen, mit vielen Blumen."
Ich schloss meine Augen und als ich sie wieder öffnete, war die Wiese etwas grüner als vorher aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Plötzlich tauchte hinter uns ein Mann auf. Mein Vater.
Er hielt eine Waffe in meine Richtung und kam immer näher. Dabei sah ich seinen kalten Blick.
Anastasia stand direkt neben mir. "Das ist deine Angst. Du kannst ihn verschwinden lassen, wenn du dich konzentrierst." Ich schloss wieder meine Augen und versuchte mir eine Welt ohne meinen Vater vorzustellen. Doch er stand direkt vor mir und war kurz davor zu schießen. "Du kannst die Kugel aufhalten!", schrie die kleine Version von mir verzweifelt. Mit erhobener Hand versuchte ich, die Waffe zu manipulieren. Plötzlich schoss er direkt in mein Bein und ich fiel zu Boden. Es tat so schrecklich weh...man konnte es nicht in Worte fassen. Als ich meine Hand auf die Schusswunde drückte, floss nur noch mehr Blut. Wieso wachte ich nicht auf? "So ein Mist!", rief Anastasia aus und kniete sich neben mich. Ich spürte, wie ich langsam verblutete. "Warum kann ich es nicht kontrollieren?", jammerte ich schmerzerfüllt. Mein Vater kam und richtete die Waffe gegen meine Stirn. "Wenn du dein Leben nicht kontrollieren kannst, kannst du auch deine Träume nicht kontrollieren", hörte ich Anastasia sagen. Ein Schuss. Dunkelheit.

Ich schreckte auf und erstarrte. Neben meinem Bett stand jemand. Blitzschnell rannte ich zum Lichtschalter, um denjenigen besser sehen zu können. Das Licht vertrieb die Finsternis und auch...die Gestalt. Wahrscheinlich hatte ich das auch nur geträumt.
Die Kunst des luziden Traums zu beherrschen ist echt schwerer, als zunächst gedacht. Man wusste, dass man träumte und wenn man gut war, konnte man ganze Welten erschaffen. Ich musste allerdings noch eine Menge lernen.
Müde lies ich mich auf die Bettkante fallen. Es war erst 04:13 Uhr Morgens. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken...dafür raste mein Herz zu sehr.
Ich nahm mein Handy und wählte die Nummer von Noah.
Kurz bevor ich auflegen wollte, hörte ich eine müde Begrüßung. "Ist etwas passiert?", fragte er besorgt. Plötzlich taten mir meine Freunde leid, denn sie mussten sich immer so viele Sorgen um mich machen. Das war nicht fair. "Nein", log ich. "Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe...ich konnte einfach nicht mehr schlafen."
"Seit dem du diesen Selbstzerstörungskurs fährst, mache ich mein Handy Nachts immer extra laut", gestand er leise. "Ich bin froh, dass du da bist", sagte ich aufrichtig. Das war ich wirklich. Noah hatte oft genug die Chance gehabt einfach abzuhauen. Natürlich war ich oft sauer auf ihn, weil er mir viele Dinge immer noch verheimlichte aber am Ende des Tages war er immer da. "Hast du dein blaues Kirchenkleid noch?", wollte er nach einigen Minuten Stille wissen. Wie kam er jetzt darauf? "Na klar!", antwortete ich. "Heute ist Sonntag...ich kann dich abholen und wir gehen mal in deine Kirche. Kann ja nicht schaden..."

Ich war schon ewig nicht mehr in der Kirche. Mein Glauben hatte wohl über die ganzen Wochen einen ordentlichen Riss bekommen. Mein Kirchenkleid war ein türkisfarbenes Kleid. Ich kombinierte das Kleid immer mit einer schwarzen Strumpfhose und einem schwarzen Jäckchen. Kurz nachdem ich mich fertig gemacht hatte, klingelte Noah auch schon. Er sah aus wie immer. Er trug Jeans und ein schlichtes Oberteil, dass sich perfekt an seinen Muskeln spannte. Als ich die Türe öffnete, hielt er etwas hoch. Meine Kette!
"Die hast du bei mir vergessen", sagte er und gab sie mir. Die Kreuz-Kette war mir unheimlich wichtig. Diese hatte ich von einem Priester geschenkt bekommen, als ich unterwegs war, um mir verschiedene Kirchen anzusehen. Diese Zeit war auch schon sehr lange her...

Wir liefen zur Kirche. Als Noah die Kirchenglocken hörte, verzog er leicht das Gesicht. "Ich bin echt überrascht", gestand ich, während wir auf die Kirche zusteuerten. "Du betrittst gleich eine katholische Kirche, obwohl du jüdisch bist!" Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. "Die Fragen doch an der Türe nicht nach einem Kirchenausweis oder sowas?", fragte er sarkastisch. "Doch! Und wenn die herausfinden, dass du nicht katholisch bist, dann kommst du nicht rein", scherzte ich und musste lachen. "Dir ist schon klar das ich das nur mache, weil ich dich in diesem sexy Kleid sehen wollte", bemerkte er und musterte mich. Er zog eine Augenbraue hoch und pfiff anerkennend. Ich schlug ihm spielerisch gegen die Rippen und verdrehte die Augen. "Bitte reiß dich zusammen, wenn wir da drin sind", flehte ich. Das letzte was ich gebrauchen konnte, war ein Hausverbot in der Kirche.

Die Kirche war schlicht gehalten und gefiel mir ehrlich gesagt nicht so gut, wie die anderen Kirchen, die ich schon gesehen hatte. Ich mochte die modern gehaltene Einrichtung nicht. Sie wirkte ziemlich kalt und ungemütlich. Leider war das die einzige Kirche im Umkreis, die einen guten Gottesdienst machte.
Normalerweise mochte ich sehr alte Kirchen, die viel Liebe zum Detail bewiesen.
Noah und ich setzten uns vorne auf die Bank. Er sah sich skeptisch um. "Wow...das ist hier ja mehr ein Seniorenheim, als eine Kirche", stellte er fest. Da musste man ihm recht geben. Die katholische Religion war besonders bei Älteren beliebt. Die Jugend blieb zunehmend weg. Wir beide waren die einzigen Jugendlichen in der Kirche und wurden deshalb auch ständig angestarrt. Es gab auch einige kleine Kinder. Die waren aber nur dort, weil die Eltern sie zwangen am Kinder-Gottesdienst teilzunehmen. "Die meisten haben wohl keine Lust so früh aufzustehen", flüsterte ich. "Quatsch, die meisten glauben einfach nicht an Gott", gab er zurück und warf einen Blick auf den großen Altar vorne. "Schade", stellte ich bedauernd fest. "Wenn ich hier gleich in Flammen aufgehe, dann Amen!", scherzte Noah wieder und der Gottesdienst begann.

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