Mittwoch, 31. August 2016
böse Vergangenheit
Ich kauerte mich auf den Boden und biss in eine Möhre, die ich mir zuvor aus der Küche genommen hatte. Luna hoppelte näher an mich heran und musterte das Gemüse in meiner Hand. Seufzend brach ich die Möhre in zwei Stücke und reichte ihr eine Hälfte. Während sie dort hockte und genüsslich knabberte, dachte ich über meinen Vater nach. Vor kurzem hatte ich herausgefunden, dass er damals genauso war, wie ich. Auch er war nachts in verlassene Gebäude geklettert und hatte sich mit bösen Geistern angelegt. Irgendetwas, was damals passiert sein musste, hatte ihn verändert und ihn zu einem Monster gemacht. Nur was? Plötzlich sah ich die Gespräche mit ihm aus einer anderen Perspektive. (…)
Wir liefen nebeneinander her und schleckten an unserem Eis. Es war ein warmer Sommertag. Gemütlich gingen wir über den kleinen Marktplatz, meiner alten Heimat. Damals trug ich eine kurze Jeans und ein gelbes Top. Meine Haare gingen mir bis zu meinen Ohrläppchen und obwohl ich sie braun gefärbt hatte, konnte man das rot immer noch erkennen. Mein Vater wirkte betrübt, nicht nur, weil er komplett schwarz gekleidet war. Irgendetwas lag in seinem Gesicht. Er hatte wieder geheiratet und zwei Kinder mit dieser Frau. Konnte er nicht einfach glücklich sein? Die Stille um uns herum war erdrückend, also suchte ich ein Thema. „Fliegt ihr diesen Sommer in die Türkei?“, fragte ich schließlich. Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. „Meine Frau und die Kinder schon…aber ich nicht. Ich muss hier bleiben“, stellte er entschieden fest, als ginge es um Leben und Tod. Irritiert starrte ich erst ihn und dann mein Schoko-Eis an, welches schon zu schmelzen begann. „Wieso musst du hier bleiben?“, hakte ich nach. Mein Vater blieb stehen und sah sich um, als vermutete er, jemand würde uns verfolgen. „Ich bin sehr krank“, antwortete er eindringlich. Das Blut in meinen Adern gefror zu Eis. Ich sah zu seiner Glatze, sah die große Narbe auf seinem Hinterkopf. Woher kam sie? Aber irgendetwas sagte mir, ich wolle das nicht wissen. „Was hast du? Musst du zum Arzt?“ Als hätte ich etwas Komisches gesagt, gingen seine Mundwinkel leicht nach oben. „Kein Arzt kann mir da helfen. Wir müssen mit den Schmerzen leben…“ (…)
Wir müssen mit den Schmerzen leben? Was hatte das zu bedeuten? Ich sah zu Luna hinab, die ihre Möhre fast aufgefuttert hatte. Plötzlich erstarrte sie, sprang einen großen Satz in die Ecke und klopfte panisch auf den Laminat-Boden. Ein Zeichen dafür, dass wir nicht alleine waren. Luna hatte so eine Art Frühwarnsystem für Übernatürliches entwickelt. Verunsichert erhob ich mich und schaute mich in dem kleinen Zimmer um. „Ich sehe nichts“, sagte ich, kniete mich nieder und klopfte mit meiner Handfläche gegen den Boden. Damit signalisierte ich ihr anscheinend, dass alles gut war. Sobald sie das klopfende Geräusch meinerseits hörte, beruhigte sie sich und hoppelte wieder zu ihrer Möhre. In dem Moment bekam ich einen Skype-Anruf durch meinen Laptop. Ich setzte mich auf meinen Schreibtisch-Stuhl und nahm den Anruf an. Ein Fenster wurde geöffnet und ich erkannte sofort, dass der Anruf aus dem Wohnzimmer der WG kam. Leonie tauchte auf und lächelte mich erleichtert an. Ihre Platin-blonden Haare hingen ihr glatt über beide Schultern. Sie trug ein rotes Schlafoberteil. Mehr konnte ich nicht sehen. „Gut, du bist noch wach!“, begrüßte sie mich freudig. „Ich hab gemacht, was du gesagt hast und ich muss nicht mehr stationär behandelt werden. Danke!“, verkündete sie begeistert. Überrascht von dem Anruf brauchte es erst mal einige Sekunden, bis ich begriff, wovon sie sprach. „Das freut mich für dich.“ Meine Reaktion war ihr augenscheinlich nicht erfreut genug, denn sie verzog enttäuscht das Gesicht. „Wann kommst du denn mal wieder vorbei? Wir wollen das doch feiern“, meinte Leonie und startete somit einen neuen Versuch. „Ich glaube, die WG ist Sperrzone für mich…“, bemerkte ich wenig euphorisch. Leonies Laune wurde dadurch immer schlechter. „Wegen deinem neuen Freund? Mr. Ich nehme dir alle Freunde weg? Ach komm schon…“, sagte sie genervt und verdrehte die hellen Augen. „Nein, wohl eher wegen Mr. Ich liebe dich und will dich heiraten. Der Typ, der auch in der WG wohnt“, klärte ich sie schroff auf. Ich wollte nicht zickig zu ihr sein, denn ich wusste, dass ich sie vermisste. Leonie dachte lange nach, bevor sie das Folgende aussprach. „Er ist nicht mehr derselbe, seitdem ihr keinen Kontakt mehr habt und alle finden das echt schade. Und du…ja, du bist auch nicht mehr dieselbe.“ (…)
In dieser Nacht träumte ich von einem dunklen Ort. Ich lief über den Asphalt, konnte aber nicht erkennen wohin, denn alles war schwarz. Plötzlich bemerkte ich, dass die Straße aufhörte und sich vor mir das Meer befand. Schwaches Licht tauchte auf und ich erkannte zwei Käfige, die langsam ins Wasser gelassen wurden. In den Käfigen befand sich jeweils eine Person, die versuchte, zu entkommen. In einem Käfig war meine Mutter und in dem anderen mein Vater. Schockiert starrte ich sie an, wie sie versuchten die schmalen Gitter aufzubrechen, bevor das Wasser sie ertränken würde. „Lass sie sterben“, sprach eine weibliche Stimme neben mir. Ich drehte mich zur Seite. Marvins Mutter schaute mich an, als wäre sie meine Vorgesetzte. „Du musst endlich damit abschließen. Lass sie einfach sterben“, wiederholte sie streng. Ich wandte mich von ihren blauen Augen ab und sah wieder zu meinen Eltern, denen das Wasser schon bis zum Bauch stand. „Oder…“, sagte eine tiefe Stimme hinter mir. „Du rettest nur einen von beiden. Denn beide kannst du sowieso nicht retten.“ Ruckartig drehte ich mich um, um meinen neuen Besucher zu begrüßen. Doch hinter mir war nach wie vor alles schwarz. Man erkannte nur zwei feuerrote Augen, die mich musterten, als wäre ich eine Beute. „Wer bist du?“, fragte ich diese Gestalt. Meine Stimme hallte durch meine ganze Traumwelt. „Ich bin ein Freund. Weißt du nicht mehr, Niklas? Kannst du dich nicht erinnern, Haylie? Wir hatten doch so viel Spaß zusammen. Natürlich ist Niklas nicht mein richtiger Name aber den darfst du leider nicht wissen“, unterhielt sich die unheimliche Stimme mit mir, als würden wir über das Wetter reden. Niklas? Als Kind hatte ich einen imaginären Freund gehabt. Ich selbst konnte mich nicht mehr an ihn erinnern aber meine Schwester berichtete mir, ich hätte von einem Skelett-Freund gesprochen. „Guck mal, wie sie nach Luft schnappen. Die letzte Luft, die sie verdienen“, holte mich Marvins Mutter zurück in die Gegenwart. Sie schaute auf das Wasser und ich drehte mich erneut zu meinen Eltern. Das Wasser stand den beiden schon bis zu ihren Hälsen. Ohne weiter nachzudenken, sprang ich in das dunkle Wasser. Als ich wieder auftauchte, hielt ich inne, denn Marvins Mutter richtete eine Waffe auf meinen Schädel. „Wenn du nicht endlich damit abschließt, muss ich mit dir abschließen!“, brüllte sie mich an und bewegte ihre Finger zum Abzug. „Ach, sei endlich ruhig!“, fauchte ich und schwamm weiter, so gut ich eben konnte. Ich war nicht schnell genug…wen sollte ich retten? Die Entscheidung wurde mir mit einer plötzlichen Kugel in der Brust abgenommen. Mein Traum stürzte in sich zusammen.
Mit schmerzender Brust wachte ich auf und kreischte in mein Kissen.

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