Donnerstag, 6. Oktober 2016
kalte Realität
Noah:
Wir saßen alle zusammen in der WG, schauten Serien und aßen allen möglichen Schrott. Ja, die Sache mit Haylie ging mir immer noch nahe aber es gab Abende, an denen ich vergessen konnte.
Bis es an der Tür klingelte. Wir sahen uns fragend an, bis sich Jonah dazu entschloss, die Wohnungstür zu öffnen.
Man hörte, wie die Tür geöffnet wurde, dann war da nur noch diese aufgeladene Stille. Jemand schlechtes musste dort sein. „Sven, alter…geh lieber. Du gehörst hier nicht mehr hin“, hörte ich Jonah sagen. Sofort ballten sich meine Hände zu Fäusten und ich sprang auf. Sven war ein alter Freund von Kürsad. Also gehörte er wirklich nicht hier hin. Wütend stürmte ich in den Flur. „Was machst du hier?!“, fragte ich mit zusammen gebissenen Zähnen. Sven, dessen hellbraune Haare ziemlich lang geworden waren, hob direkt beide Hände, so als wollte er zeigen, dass er unbewaffnet war. „Ey, ich muss euch was erzählen. Das ist mega wichtig. Es geht um Haylie“, fing er an und trat hinein. Jonah und ich warfen uns einen verwirrten Blick zu. „Kürsads Leute haben etwas vor…und ich glaube sie machen es heute Nacht. Sie haben mich dazu gezwungen ein GPS-Sender an Haylies Wagen zu schrauben und sie wissen, dass ihr Freund grade nicht in der Stadt ist. Wann wäre also der bessere Zeitpunkt?“, erzählte uns Sven eindringlich. Mein Cousin und ich verschränkten die Arme, weil wir vermutlich genau das Gleiche dachten. „Warum sollten wir dir glauben? Wieso erzählst du uns das?“, hakte Jonah schließlich nach. „Das Mädchen hat echt genug durchgemacht. Ich bin raus“, sagte er und wirkte erschöpft. Ja, ein schlechter Mensch zu sein kann müde machen.
„Und du glaubst es passiert heute Nacht?“, fragte ich ihn und jetzt war ich besorgt. „Naja, wenn Haylie heute Abend zu Hause bleibt vielleicht nicht.“ Sven sah sich in unserem schwach beleuchteten Flur um, so als hätte er erst jetzt bemerkt, dass er in unserer Wohnung stand. „Sie ist aber nicht zu Hause“, mischte sich Dana plötzlich ein, die auf einmal hinter uns stand. Sie war blass und schien nachzudenken. „Sie sitzt grade im Bus.“ (…)
Wir fuhren so schnell wir konnten aber einen Plan hatten wir auch nicht. Zum Glück hatte Haylie zuvor noch mit Dana telefoniert, daher kannten wir den Standort ihres Autos. Jonah fuhr meinen Wagen, weil ich einfach viel zu nervös war. Dana saß auf der Rückbank. Eigentlich wollten wir sie nicht mitnehmen aber sie hatte nicht locker gelassen. Es blieb keine Zeit zu diskutieren. Nick hatte sich ebenfalls bereit erklärt mitzukommen. Er saß neben Dana und war nicht erfreut darüber, dass seine Freundin bei so einer Aktion mitmachte. Aber ich konnte an nichts anderes denken…war es schon zu spät?
Nach einer gefühlten Ewigkeit bogen wir in eine finstere Nebenstraße. Wieso hatte Haylie auch in so einer verlassenen Siedlung geparkt? Da sahen wir sie, mitten auf der Straße. Drei dunkel gekleidete Männer standen neben ihrem Auto. Einer von den Mistkerlen drückte sie grade mit dem Gesicht gegen die Fensterscheibe ihres Wagens. Haylie sah so schmerzverzehrt und ängstlich aus, da konnte ich nicht anders. Noch bevor Jonah halten konnte, sprang ich aus dem Auto und rannte los.
Natürlich bemerkten mich die Drei sofort, weshalb einer Haylie packte und ihr ein großes Messer an die Kehle hielt. Ihre Augen waren weit geöffnet und sie atmete schwer. Ich blieb stehen und malte mir einen schnellen Plan aus. „Bist du der Freund?“, lachte einer. „An deiner Stelle würde ich das Messer da weg nehmen“, knurrte ich den Typen an. Alle sahen ziemlich gleich aus und es war so dunkel, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Dann handelte einer der Arschlöcher leider zuerst und rammte mir ein Messer in die Seite. Der Stich war nicht tief aber scheiße, das tat weh! „Noah!“, kreischte Haylie hysterisch. Als ich nach oben schaute, war sie grade dabei ihrem Angreifer in den Arm zu beißen. Der ließ das Messer fallen und schrie auf. Jonah und Nick trafen ein und schubsten diese Idioten von uns weg. Haylie nutzte ihre Chance und entfernte sich von ihnen. Wir wollten grade in Kampfstellung gehen, da raste ein Auto auf uns zu und sie stiegen schneller ein, als wir gucken konnten. Nick zückte sofort sein Handy und wollte die Polizei rufen. „Keine Polizei…das bringt nichts mehr…“, keuchte Haylie, die sich auf den Boden gekniet hatte. „Das müssen wir anders lösen.“
Ich presste meine Hand gegen meine Rippen und stellte fest, dass ich blutete. Doch es hielt sich in Grenzen. „Geht’s dir gut?“, wollte Haylie wissen und sah mich jetzt an. „Geht’s dir gut?“, stellte ich grinsend eine Nebenfrage. „Mir geht’s wie immer, ziemlich be…scheiden“, sagte sie und verzog ihr Gesicht. (…)
Wir richteten Haylie einen Schlafplatz ein…auf der Couch. Dana verarztete noch meine Wunde, dann gingen alle in ihre Zimmer. Es war wieder einmal ein aufregender Abend gewesen. Haylie hatte sich einen braunen Pyjama von Dana geliehen und kuschelte sich in die Decke auf der großen Eckcouch. Kurz bevor ich in meinem Zimmer verschwinden würde, wollte ich nach ihr sehen. „Sicher, dass du nicht in meinem Zimmer schlafen willst? Ich kann auf der Couch schlafen“, bot ich an. Sie tippte was in ihr Handy und sah mich dann lächelnd an. Ihr Auge war etwas angeschwollen und ihre Lippe aufgeplatzt. „Das ist nett…aber das kann ich Marvin nicht antun. Es ist schlimm genug, dass ich überhaupt hier bin“, bemerkte sie bedauernd. Ich nickte deutlich und wollte das Zimmer verlassen. „Danke, Noah“, sagte sie plötzlich mit einer heiseren und müden Stimme. Lächelnd drehte ich mich doch zu ihr. „Das ist mein Job“, gab ich zurück. Haylie musste grinsen. „Ins offene Messer zu laufen?“ Schmunzelnd sagte ich: „Dich zu beschützen.“ (…)
Am nächsten Morgen dachte ich, dass alles wäre nur ein schwacher Traum gewesen, bis ich sie im Badezimmer leise singen hörte. Ich rappelte mich auf und verließ mein Zimmer. An der Badezimmertür hielt ich kurz inne, weil ich diesen Gesang wenigstens ein paar Sekunden hören wollte. Danach ging ich in die Küche und setzte den Kaffee auf. Als ich grade dabei war Eier in die Pfanne zu schlagen, hörte ich sie. „Bist du immer noch in mich verliebt?“, fragte Haylie, die im Türrahmen der Küche stand. Überrascht drehte ich mich zu ihr. Der braune Pyjama von Dana war ihr viel zu groß. Das Oberteil rutschte ihr von der rechten Schulter und die Hose sah auch aus, als würde sie bald ihren Weg auf den Boden finden. Dadurch wirkte Haylie kleiner und dünner, so zerbrechlich. Sie spielte mit dem Stoff ihres Oberteils und sah mich mit großen, müden Augen an. Unter dem linken Auge zeichnete sich ein violetter Fleck ab und ihre Unterlippe war etwas angeschwollen. Ihre Haare, die sie anscheinend schon gekämmt hatte, saßen jedoch perfekt. „Noah?“, holte sie mich in die Realität zurück. „Marvin ist sauer auf mich, weil ich hier bin. Ich kann das verstehen…aber trotzdem würde ich das gerne wissen. Ich meine, es sind jetzt schon einige Monate vergangen.“ Wenn ich ihr Freund wäre, wäre ich vermutlich auch sauer aber ich würde sie niemals anlügen. „Wenn man jemanden liebt, dann hört man nicht damit auf. Nicht mal in ein paar Monaten…niemals. Und wenn das doch der Fall sein sollte, dann hat man denjenigen nie geliebt“, antwortete ich wahrheitsgemäß und kümmerte mich anschließend weiter um das Frühstück. Im Augenwinkel sah ich, wie Haylie immer noch dastand und wahrscheinlich nicht wusste, was sie sagen sollte. „Dann sollte ich vermutlich nicht hier bleiben…das wäre nicht fair…ich meine“, fing sie an aber ich unterbrach sie. „Mein Gott! Haylie! Ich bin doch kein Fremder mehr! Jonah und Sven sind unten und regeln das mit deinem Auto. Das hier ist kein Date und ich werde auch nichts machen, was du nicht möchtest! Wenn du willst, zieh ich mir jetzt ein Oberteil an und du kümmerst dich um diese verdammten Eier“, rief ich aus, drückte ihr den großen Löffel in die Hand und ging in mein Zimmer. (…)
Nachdem ich mich angezogen hatte, schafften wir es echt uns gemeinsam an einen Küchentisch zu setzen, ohne dass Haylie in Hysterie verfiel. Sie schien keinen großen Hunger zu haben, denn sie pickte in den Eiern rum, als wären sie Kürsad. Lediglich ihren Kaffee trank sie, wie immer, mit Genuss. Ich dagegen konnte immer essen, weshalb ich mir alles in den Mund stopfte. Darüber musste sie natürlich lachen und rollte mit den Augen. „Ich war gestern an der Uni…“, fing sie zögernd an. Wow, ein normales Gespräch! Endlich.
„Naja, einfach nur so, denn es fängt ja nächste Woche an. Ich wollte mir das Gebäude ansehen und die Bahnverbindungen checken. Aber als ich dann dort war, wurde mir erst bewusst, dass es sich um einen Gebäudekomplex handelt, in dem ich mich überhaupt nicht zu Recht finde. Ich hab doch überhaupt keine Orientierung. Irgendwann stand ich vor einem großen schwarzen Brett und dort waren einfach so viele Zettel…ich kam komplett durcheinander. Wie soll ich das alles schaffen? Eigentlich habe ich keine Lust mehr, mich noch jahrelang testen zu lassen. Ich möchte das nicht mehr und weiß nicht, wie ich das meiner Familie beibringen soll…echt nicht. Und was ist, wenn ich damit anfange und scheitere? Dann war das ganze Geld umsonst“, erzählte sie mir verzweifelt und starrte ihren Kaffee an.
„Das haut einen um, was?“, sagte ich grinsend. „Aber hey, es bringt dich nicht um.“ Verwundert zog sie die Augenbrauen hoch und schaute zu mir. „Man, das ist echt scheiße, wenn man damit anfängt und einen erst einmal alles erschlägt. Du musst das Semester nicht mal zu Ende machen und kannst jederzeit abbrechen. Und kümmer dich nicht um das Geld, denn das ist nur Papier. Man hört ja nicht auf, welches zu drucken. Doch das Wichtigste ist: es bringt dich nicht um! Du bist schon so weit gekommen und kannst so gut, wie alles schaffen. Vor dir liegt eine Welt, die darauf wartet von dir entdeckt zu werden. Klar hast du Angst aber das zeigt doch nur, dass du noch lebst.“
Ha! Sobald ich aufhörte zu sprechen, tat sie es wieder. Sie legte ihren Kopf schief, verengte ihre Augen und versuchte mich zu lesen. „Aber was mache ich nächste Woche? Dorthin gehen und mich wieder verlaufen?“, hakte sie nach. „Die bessere Frage ist doch: was machst du jetzt?“, entgegnete ich und legte meinen stärksten amerikanischen Akzent auf, denn der brachte sie immer zum Lachen. „Hä? Wie jetzt?“ Die Gegenfrage brachte sie aus dem Konzept. „Scheiß doch mal auf nächste Woche oder so. Dein Gehirn muss heute leben. Morgen könntest du theoretisch gesehen Tod sein. Konzentriere dich auf den Kaffee in deiner Hand und das Gespräch. Wir Menschen leben zu sehr in der Vergangenheit und Zukunft. Dabei vergessen wir die Gegenwart. Das ist doch immer so!“, stellte ich motivierend fest. „Und selbst wenn du dich verläufst, ist es das nächste Abenteuer.“ Haylie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und ihre Gesichtszüge wirkten jetzt entspannter. „Man merkt, dass du was mit Psychologie studierst“, bemerkte sie kichernd. Ich begann meinen leeren Teller in die Spülmaschine zu räumen. Nach einer kurzen Pause, fügte sie hinzu: „Aber du weißt, dass wir uns trotz allem nicht treffen können oder sonstiges. Ich bin dir wirklich dankbar aber wenn ich heute die WG verlasse, dann bleibt das so, wie es vorher war. Ich bin…“ Mit einem ernsten Gesicht unterbrach ich sie wieder, denn ich kannte ihre Abwehr bereits. „Du bist in einer Beziehung, schon verstanden.“

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