Samstag, 19. März 2016
pure Zerstörung
Kalte Nachtluft wehte durch meine Haare, als ich die dunkle Gasse entlang ging. Im echten Leben wäre ich niemals nachts durch Gassen gewandert aber im Traum war alles möglich. Ich spürte, dass jemand hinter mir stand und drehte mich langsam um. Es war ein Mann, komplett dunkel gekleidet. Man konnte sein Gesicht nicht sehen, denn sein Hut versperrte die Sicht. Alles was man sehen konnte, war das blasse Kinn. Er hob seinen Kopf etwas und ich erkannte sein Lächeln. Ein fieses und hinterhältiges Lächeln. „Wer bist du?“, fragte ich den unheimlichen Typen. „Die Frage ist, was ich vorhabe“, korrigierte er mich, mit einer tiefen, bedrohlichen Stimme. Sollte das etwa ein Albtraum sein? Darauf hatte ich keine Lust, weshalb ich die Augen schloss und ihn mir weg wünschte. Doch als ich die Augen wieder öffnete, stand er immer noch vor mir in der Gasse. Er lehnte sich belustigt gegen die Backsteinwand. „Du kannst mich nicht weg schicken, kleine“, stellte er amüsiert fest. „Ich bin der Grund für all das hier!“ Zugegeben, dies war ein krasser Traum. Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Verunsichert trat ich einige Schritte zurück. „Was willst du?“, fragte ich ihn nervös und versuchte in seine Augen zu gucken. Aber der Hut war einfach zu groß. „Deine Freunde werden alle leiden, bis sie verschwinden und dann wirst du immer und immer wieder einsam enden. Das will ich. Ich will sehen, wie es dich zerstört. Nicht mehr und nicht weniger“, erklärte diese…Gestallt aufgeregt, als gäbe es bald Geschenke. „Das kann doch nicht wahr sein!“, fluchte ich fassungslos. „Kann mein Unterbewusstsein nicht aufhören? Diese Schuldgefühle nerven mich!“ Ich nahm die Sache nicht ernst, immerhin spielte mein Kopf wieder ein Spiel mit mir. Deshalb grinste ich den Möchtegern-Sensenmann an und wollte weiter gehen. Urplötzlich stand er vor mir und drückte mich wieder nach hinten. „Ich bin nicht dein Unterbewusstsein, Mädchen!“, fauchte er mich an.
„Lass sie los!“, hörte ich eine bekannte Stimme sagen. Marvin kam aus der Dunkelheit in die schwach beleuchtete Gasse und stieß die Gestalt von mir. „Was ist das für ein Spinner?“, fragte er mich aufgebracht, als er sich zu mir drehte. Seine hellblauen Augen leuchteten fast, während er mich besorgt musterte. „Keine Ahnung, ich kenne den nicht“, antwortete ich. Es war komisch Marvin in meinen Träumen zu sehen aber auch einleuchtend. Immerhin dachte ich momentan pausenlos an ihn. Kein Wunder, dass er in meinen Träumen auftauchte. „Du bist wunderschön“, sagte Marvin sanft. Ich fuhr zusammen und schaute an mir runter. Wie gewöhnlich, trug ich meine Schlafshorts und ein Top. „Danke.“
Im nächsten Moment tauchte der komische Typ wieder auf und zog Marvin mit voller Wucht von mir weg. Dann verpasste er ihm einen Schlag, sodass Marvin wieder in der Dunkelheit verschwand. Schade, jetzt war ich mit dem Freak allein. „War das jetzt nötig?“, wollte ich genervt wissen. „Wenn du schlau gewesen wärst, hättest du dich von dem Jungen fern gehalten. Du zerstörst ihm auch noch sein perfektes Leben. Aber umso besser, denn dann zerstört es dich noch mehr! Zerstörung!“, freute sich die Gestalt und klatschte in die bleichen Hände. Wer war er? Und wieso kam es mir so vor, als wenn er mehr Macht hätte, als ich? „Du kannst mich nicht zerstören“, bemerkte ich selbstbewusst, glaubte mir jedoch selbst kein Wort. Die Gestalt wollte grade wieder etwas von sich geben, als ein Klingelton durch meine Traumwelt hallte. Der Traum kollabierte.

Erschrocken rang ich nach Luft, als ich in meinem Bett wach wurde. Mein Zimmer wurde von meinem Handy beleuchtet, weil mich jemand anrief. Verschlafen schaute ich zu der Uhr am Fernseher. Es war grade mal drei Uhr morgens. Auf dem Display tauchte Marvins Nummer auf. Verwundert meldete ich mich zu Wort. „Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Ich hatte einen krassen Albtraum und du kamst auch drin vor. Geht’s dir gut?“, wollte Marvin müde wissen. Langsam dämmerte mir, was er gesagt hatte und ich bekam große Augen. „Was hast du denn geträumt?“, fragte ich erstaunt. „Das hört sich bisschen komisch an aber ich habe ziemlich reale Träume. Dich hat so ein Typ bedroht und ich wollte dir helfen“, stellte Marvin fest. Mir wurde bewusst, dass wir vermutlich das Gleiche geträumt hatten. Deshalb lief es mir eiskalt den Rücken runter, als ich sagte: „Sowas ähnliches hab ich auch geträumt.“ Doch ich würde ihm nie sagen, was ich genau geträumt hatte. Später würde er mich für verrückt halten und ich wollte doch normal sein. „Vielleicht sind wir ja Seelenverwandte“, sagte er sarkastisch und musste lachen. Mir war echt nicht zum Lachen zumute. Dafür bauten sich zu viele Fragen in meinem Kopf auf. „Vielleicht“, gab ich schwach zurück. Er erzählte mir weiter über den Traum und es wurde immer klarer, dass wir das Gleiche geträumt haben mussten. Dennoch behielt ich die Details für mich und bald schon legten wir auf, um es wieder mit dem Schlafen zu versuchen.

Am nächsten Morgen war ich wiedermal spät dran. Ich hatte nur noch zwei Tage Schule und wollte meine Kurse nicht verpassen. An dem Tag verkleideten sich die Abschlussklassen unter dem Motto „schlechter Geschmack“. Also zog ich meine bunte Jogginghose an, einen alten Kapuzenpullover und band mir einen unordentlichen Zopf. Immerhin wollte ich kein Spielverderber sein und verkleiden machte eben Spaß. Nachdem ich einen knallrosa Lippenstift aufgetragen hatte, nahm ich meinen Rucksack und rannte zu meiner Garage.
Als ich rückwärts aus der Garage fuhr, sah ich im Rückspiegel, dass Noah hinter dem Wagen auftauchte. Ich bremste scharf. Mist.
Ich atmete durch, bevor ich den Motor abstellte und ausstieg. Er lehnte sich gegen den Kofferraum und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dana hat mir alles erzählt. Von dem neuen Marvin und auch von deinem Unfall. Du selbst meldest dich ja nicht mehr“, stellte Noah abfällig fest und ging um das Auto herum. Er musterte die zerkratzten Felgen und verdrehte die Augen. „Du sollst doch vorsichtig fahren, Honey.“ Plötzlich kam ich mir dumm vor in meiner Verkleidung. Schuldgefühle fraßen sich in mein Gehirn und dies auch berechtigt. Ich wusste nicht, wie ich Noah die Sache mit Marvin erklären sollte. Eine Beziehung war das nicht aber ich war neugierig. Immerhin verband Marvin und mich, dass wir beide diese Träume hatten. Wer wusste schon, was das zu bedeuten hatte? „Ich will herausfinden…ich meine…“, stotterte ich hilflos aber ich fand nicht die richtigen Worte. „Schon gut“, unterbrach mich Noah barsch. „Es ist in Ordnung. Ich bin es nur leid. Ich bin es leid, um dich zu kämpfen. Jedes Mal, wenn ich glaube, dass wir zusammen bleiben, passiert die nächste Scheiße. Dana hat mir auch von deinen Träumen erzählt. Meiner Meinung nach solltest du diesen Marvin in Ruhe lassen aber ich weiß, du wirst nicht auf mich hören. Mach dein Ding. Ich werde nicht mehr hierhin kommen.“ Er bedachte mich mit einem traurigen aber auch mit einem entschlossenen Blick. Dann wandte er sich ab und wollte gehen. „Du verlässt mich“, bemerkte ich erschüttert, obwohl ich es nicht anders verdient hatte. Kurz schien es, als wollte Noah mich umarmen aber dann riss er sich zusammen. „Weißt du, was das traurige ist? Ich kann dich nicht verlassen. Wenn was ist, ruf mich an.“ Auch wenn seine Worte etwas anderes beinhalteten wusste ich, er würde nicht mehr wiederkommen. Diesmal war es an mir, zu kämpfen.

Aus Gründen, die ich nicht genau benennen konnte, fühlte ich mich bei Marvin von Anfang an wohl. Er lebte mit seiner Mutter in einem großen Haus. Das Haus war wunderschön eingerichtet und auch sein Zimmer zeugte von Geschmack.
Eines Abends saßen wir auf der Couch in seinem Zimmer und sahen uns einen Film an. Dabei bemerkte ich, wie er mich immer wieder ansah. Als ich mich zu ihm drehte, grinste er ertappt. „Sorry, du bist richtig schön“, sagte er. Ich lächelte ihn geschmeichelt an.
Wir redeten und lachten viel. Fast vergaß ich meine Probleme. Fast.
Ich musste eingeschlafen sein, denn bald schon wurde ich von einem Stechen in der Magengrube wach. Panisch sah ich mich um. Wir lagen beide auf der Couch. Er grinste mich an, als er bemerkte, dass meine Augen sich öffneten. „Du bist echt süß, wenn du schläfst“, bemerkte er begeistert. Nervös versuchte ich an etwas anderes zu denken. Nein, ich durfte jetzt einfach keinen Anfall haben! Marvin wusste nichts, von meiner „Krankheit“. Er sollte auch nichts davon erfahren. Ich wollte ein normales Leben führen, mit allem was dazu gehörte. Die Magenschmerzen wurden immer stärker und bahnten sich ihren Weg zum Herzen. Mir wurde übel und schwindelig. Ich wusste, mir blieb nicht mehr viel Zeit. Entweder würde ich mich übergeben oder ich würde zusammenklappen. An beides war jetzt nicht zu denken. Ich musste mir einreden, dass ich stark genug war. „Es ist schon spät“, versuchte ich zu flüchten. Marvin bemerkte, dass etwas anders war als vorher. Doch er sagte nichts, sondern brachte mich normal zu meinem Auto. Wir verabschiedeten uns von einander. Danach fuhr ich mit letzter Kraft nach Hause.
Ich schaffte es bis zum Hof, denn dort klappte ich zusammen. Auf dem Boden liegend krallten sich meine Finger in mein Oberteil. Der Schmerz wanderte in meine Beine, weshalb ich nicht mehr richtig laufen konnte. Mit letzter Kraft schleppte ich mich in die Wohnung.
Kaum war ich in meinem Zimmer, musste ich weinen. Nicht wegen dem Schmerz, denn an den hatte ich mich gewöhnt. Ich hatte mich aber nicht an die Aussicht gewöhnt, nie ein normales Leben führen zu können. Ich konnte weder auf Übernachtungspartys gehen, noch konnte ich eine Beziehung führen. Wie sollte man es mit mir aushalten? Leider hatte der gruselige Typ aus meinem Traum recht: mein Leben war pure Zerstörung.

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