Montag, 6. Juni 2016
schwere Wochen
„Wenn Nick wüsste, dass du hier bist…keine Ahnung was er dann machen würde“, dachte Leonie laut nach und lehnte sich zurück. Wir befanden uns im Aufenthaltsraum der Psychiatrie, welcher ausnahmsweise mal voller war, als sonst. Es gab viele Besucher und dementsprechend viele aufgewühlte Gespräche. Leonie trug einen weißen Bademantel und ihre Haare waren feucht. Anscheinend kam sie grade aus der Dusche. Seitdem ich sie beim letzten Sturm raus geschleppt hatte, war ihr Bruder Nick nicht gut auf mich zu sprechen gewesen. Verständlich aber ich war immer noch der Meinung, dass ich alles unter Kontrolle gehabt hatte. Es war so warm draußen, dass ich allein beim sitzen schon ins Schwitzen kam. Also band ich meine dicken Haare zu einem Zopf und wandte mich wieder Leonie zu. „Ich habe dir doch versprochen, dich hier raus zu holen“, stellte ich zuversichtlich fest. Leonies Laune veränderte sich schlagartig und sie strahlte. „Wie stellst du dir das vor?“, fragte sie neugierig und rückte mit ihrem Stuhl näher an mich. „Schauspielerei“, warf ich stolz ein und verschränkte die Arme vor der Brust.

Nachdem sich Leonie eine Jeans und ein Shirt übergeworfen hatte, gingen wir raus in den Garten der Klinik. Der Garten war riesig und erinnerte mich an einen botanischen Garten, in dem ich damals mit meiner Oma gewesen war. Überall leuchteten die Blumen in verschiedenen Farben. Wir gingen den Weg entlang und setzten uns schließlich unter einen Baum, weil das der einzige schattige Platz im Garten zu sein schien. Ich deutete Leonie, sie solle sich an den Baumstamm lehnen und sich entspannen. Ich setzte mich gegenüber von ihr ins Gras und atmete durch. Ich wollte ihr helfen, weil ich wusste wie es war, gefangen zu sein und für verrückt gehalten zu werden. Das waren wir nicht. „So, ich bin jetzt deine Therapeutin. Es ist echt wichtig, dass du nicht mehr von den Stimmen oder sonstigem Quatsch erzählst“, bemerkte ich eindringlich. Leonie nickte konzentriert. „Was soll ich sagen? Das ich geheilt bin und sie nicht mehr höre?“ Sie strich mit den Händen über die Wiese und schien wenig Hoffnung zu haben. „Nein, das wäre zu auffällig“, ermahnte ich sie. „Du musst zugeben, dass du verrückt bist. Du musst denen sagen, dass du um deine Krankheit weißt und dich ändern möchtest. Du hättest darüber nachgedacht und weißt, die Stimmen sind nur in deinem Kopf und nicht von Bedeutung. Wenn sie merken, wie sehr du dich ändern willst…dann kriegst du erst mehr Ausgang und bald darauf entlassen sie dich.“ Leonie hörte mir aufmerksam zu und nickte immer wieder. „Ich war jetzt lange genug hier…es ändert sich sowieso nichts mehr“, sagte sie schulterzuckend. „Wird es auch nicht. Die Karten wurden ausgeteilt. Wir müssen lernen, damit zu leben“, stellte ich fest.
„Hey!“, rief eine bekannte Stimme von hinten. Nick kam energisch auf uns zu. Jetzt würde es Ärger geben, das stand fest. Er trug kurze Sporthosen und ein etwas verschwitztes Top. „Was machst du hier?“, fuhr er mich direkt an und stellte sich schützend vor seine Schwester. Ich rollte mit den Augen und stand auf. „Mich unterhalten“, antwortete ich knapp. „Lass sie in Ruhe“, mischte sich Dana ein und tauchte hinter mir auf. Wir umarmten uns und ich war erleichtert sie zu sehen. Sie trug einen kurzen, schwarzen Rock, der wirklich süß aussah. Ihre Haare waren so lockig wie immer…es musste verdammt heiß darunter sein. „Sie ist die Einzige, die mich versteht“, sagte Leonie und hielt Nick am Unterarm fest. „Sie ist die Einzige, die dich fast gekillt hat“, knurrte Nick wütend. „Jetzt übertreibst du aber…“, kommentierte Dana die Situation und nahm mich an die Seite. Leonie sagte noch irgendetwas zu Nick aber ich hörte die Beiden nicht mehr. Ich hatte keine Lust mich mit Nick zu streiten und war richtig froh, Dana zu sehen. Sie legte einen Arm um mich und wir gingen auf den Parkplatz zu. „Wir machen so wenig miteinander…seitdem alles den Bach runter ging“, stellte Dana traurig fest. Es war schwer für mich, alles so wie damals zu machen. Seitdem Zeynep nicht mehr da war…
„Bald sind die Gerichtsverhandlungen…“, warf ich monoton ein und blieb stehen. Sofort brannten die Tränen in meinen Augen. Dana legte ihre Hände auf meine Oberarme und suchte meinen Blick. „Ihr Tod war nicht deine Schuld. Du hast versucht ihr noch zu helfen…und Chris wird dafür bezahlen. Hat die Polizei Kürsad gefunden?“ Nein, hatte sie nicht. Er lief immer noch draußen herum und wartete auf eine Gelegenheit mich fertig zu machen. So instabil, wie ich in den letzten Tagen war, ging das sowieso leicht. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf und ignorierte die Angst, die in mir hochkroch. Dana seufzte besorgt. „Was gibt’s neues von der Noah Front?“, fragte ich und wechselte somit das Thema. Wobei das Thema auch nicht besonders gut war. „Er ist bei seiner Familie und hilft, wo er nur kann. Es sterben momentan zu viele Menschen…“, sagte Dana leise. Noah war also jetzt in Amerika, ausgerechnet jetzt, wo Kürsad frei herum lief und die Verhandlungen starteten. Er war der Einzige, der einen Draht zu diesen kranken Typen hatte. Es hätte mich beruhigt, wenn er da gewesen wäre.
Doch Familie ist wichtiger, als alles andere. Dana und ich ließen Leonie mit ihrem Bruder alleine. Zumal er mich seit der „Sturm-Geschichte“ nicht sonderlich leiden konnte. Wir setzten uns in die Mensa und tranken Kaffee. Mir dämmerte, dass die nächsten Wochen nicht leicht werden würden. Doch da würde ich auch lebend herauskommen, so wie ich es immer tat.

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