Mittwoch, 17. Februar 2016
Fragen ohne Antworten
"Wann haben die Schmerzen...diese Anfälle angefangen?" Helen saß auf einem Hocker neben meinem Bett und löcherte mich mit Fragen. Dana hatte doch tatsächlich ihre Tante zu mir geschleift. Sie war der festen Überzeugung, die könne mir helfen. Warum auch immer...
Den ganzen Tag hatte ich weder etwas gegessen, noch getrunken. Ich fühlte mich seltsam...so anders. Beschreiben konnte ich dieses Gefühl auch nicht. "Konzentriere dich...wann haben diese Schmerzen angefangen?", wiederholte Helen ihre Frage mit nachdruck. Sie sah mich mit besorgten, grauen Augen an. Ihre strähnigen, blonden Haare waren hochgesteckt. Ich wusste nicht, wie alt sie war aber ich schätzte sie auf Mitte 40. "Ich weiß es nicht...ich habe die Anfälle schon lange", antwortete ich mit heiserer Stimme. Vor irgendetwas hatte ich Angst, wusste aber nicht wovor. Dana wartete in der Küche, während Helen etwas in ihr Notizbuch schrieb, welches sich auf ihrem Schoss befand. "Kannst du dich an kein Ereignis erinnern? Irgendwann muss es angefangen haben. Denk nach", wies mich Helen an. Irgendwas stimmte nicht mit mir, denn ich hätte sie gerne gegen die Wand gedrückt und ihr ins Ohr geschrien, dass es sie nichts anginge. So aggressiv war ich normalerweise nicht. "Ich hab keine Ahnung. Sie kommen und gehen, wann sie wollen. Das ist normal geworden", zischte ich. Helen sah mich mit einer hoch gezogenen Augenbraue an. Dann warf sie mir einen Handspiegel zu, den sie zuvor aus ihrer Handtasche gefischt hatte. "Schau rein und sag mir, ob das normal ist." Widerwillig nahm ich den Spiegel und sah mich...das erste Mal an diesem Tag. Ich war so bleich...unter meinen Augen bildeten sich dunkle Ringe, die beinahe violett wirkten. Meine Augen waren rot und angeschwollen. Die Lippen hatten tiefe Risse und waren ganz blutig. Wann war das denn passiert? "Hat das A auf deinem Finger etwas zu bedeuten?", fragte Helen weiter und deutete auf meinen rechten Zeigefinger. Ich legte den Spiegel weg und schaute auf meinen Finger. Es sah aus, als hätte mir jemand ein A in die Haut geritzt...auch da war alles blutig. "Wieso hast du dir das in die Haut geritzt?" Ich hatte mir das nicht in die Haut geritzt...
"Ich sehe das zum ersten Mal", sagte ich schroff und starrte Helen böse an. Warum, wusste ich selbst nicht. Helen lehnte sich nach vorne und schob die Ärmel meines Pullovers nach oben, damit sie freie Sicht auf meine Arme hatte. "Was sind das für blaue Flecken?" Die Liste der Fragen wurde immer länger.
Ich schob die Ärmel wieder nach unten. "Ich weiß es nicht...Dinge passieren einfach", fuhr ich sie an. Helen nickte schwach und wandte sich wieder ihrem Notizbuch zu. "Weißt du was? Du hast einen stärkeren Körper, als du vielleicht denkst. Er kämpft gegen etwas an. Gegen was, das ist hier die Frage", stellte sie nachdenklich fest. "Es gibt viele verschiedene Gefühle, mit denen du fertig werden musst. Mal sind es negative Gefühle und mal positive. Ein Pendel, dass so weit ausschlägt kann eine menge Schaden anrichten." Nervös kratzte ich mich am Nacken. Warum ich nervös war? Keine Ahnung. "Ich will nicht mit ihnen über meine Gefühle sprechen. Mir geht es gut...", log ich schwach. "Du guckst mich die ganze Zeit an, als wäre ich dein Feind. Dir geht es gut? Du kannst nicht mal mehr laufen. Du sitzt den ganzen Tag im Bett und starrst an die Wand. Dir geht es alles andere als gut." Helen schloss ihr Notizbuch und legte eine Hand auf meine. Sie zuckte kurz zusammen. "Deine Hände sind eiskalt...", bemerkte sie leise. "Dana hat mir erzählt, was du gesehen hast. Diese Gestallt...kannst du mir diese beschreiben?" Das reichte mir. Ich zog meine Hand weg und knurrte Helen an. "Das habe ich Dana im vertrauen erzählt. Vielleicht habe ich das geträumt oder mir nur etwas eingebildet."
"Das glaube ich nicht und...", wollte Helen sagen aber ich unterbrach sie, indem ich aufstand. Meine Beine fühlten sich komisch an, so fremd. Lange würde ich nicht stehen können. "Verschwinden sie! Mir egal, was sie glauben! Ich bin nur krank, wie jeder andere Mensch auch krank werden kann. Das geht vorbei!", schrie ich sie an. Helen erhob sich und Dana tauchte geschockt in meinem Zimmer auf. "Was ist denn hier passiert?", fragte sie verwirrt. "Deine Freundin braucht Ruhe", stellte Helen schnell fest und zog Dana aus meinem Zimmer. Wir verabschiedeten uns flüchtig und dann war ich wieder alleine. Zum Glück. Mein Kopf hämmerte wie wild.

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Das Mädchen von damals
Wie sehr wünschte ich mich in meine Grundschulzeit zurück...in meine sorglose Kindheit.
Der Schnee knirschte damals unter meinen kleinen Füßen, als ich zu meiner besten Freundin rannte. Es war praktisch, dass meine beste Freundin gleichzeitig meine Nachbarin war. Ihr Haus war direkt gegenüber von meinem Haus. Mein hellbraunes Haar, welches ich zu einem Zopf gebunden hatte, wippte hin und her.
In der einen Hand hatte ich das Seil, an dem ein Schlitten befestigt war. In der anderen Hand hielt ich eine Leine. Bugs, der schwarze Labrador meines Onkels, folgte mir auf Schritt und Tritt.
Meine beste Freundin kam aus ihrem Haus und wir gingen in ihren Vorgarten. Leah hatte dunkelblonde Haare und vor kurzem hatte sie sich einen Pony schneiden lassen. Auch sie hatte einen Holzschlitten, genau wie ich. "Gut, jetzt haben wir beide einen!", stellte sie glücklich fest und begrüßte Bugs, indem sie ihn streichelte. "Dann kann Operation-Geronimo starten", sagte ich aufgeregt. So machten wir uns auf den Weg. Wir hatten nur Jeans an, dünne Oberteile und eine Herbst-Jacke, obwohl es eiskalt war. Doch das machte uns nichts, denn wir wurden nie krank. Damals war mein Immunsystem so stark...es gab weder Anfälle noch sonst etwas dieser Art.

Wir suchten uns einen großen Hügel auf einer großen Wiese und kletterten hoch. Als wir oben waren, schaute ich unsicher runter. "Wow...das geht echt steil runter", bemerkte ich nervös. "Ja! Wie lange hab ich auf diesen Tag gewartet!", rief Leah aus und stellte ihren Schlitten bereit. Das war wieder mal typisch...die hatte vor gar nichts Angst.
Nachdem ich meinen Schlitten auch bereit gestellt hatte, wies ich Bugs an, hier oben zu warten. Er setzte sich in den Schnee. Leah und ich setzten uns auf unsere Schlitten und zählten von 10 herunter. Als wir den Schlitten in Bewegung setzten riefen wir beide: "Geronimo!" Die Schlitten wurden immer schneller und irgendwann verloren wir beide die Kontrolle und knallten gegeneinander. Wir wurden von unseren Schlitten geschleudert und landeten, mit dem Kopf zuerst, in einem riesigen Schneehaufen. Bugs eilte uns von oben zur Hilfe und spätestens in dem Moment, prusteten wir beide los.
An dem Tag jagte ein Lachanfall den nächsten. Wir fuhren bestimmt 50 mal diesen Hügel runter und landeten immer im Schnee. Irgendwann waren unsere Klamotten total durchnässt und wir beschlossen nach Hause zu gehen. "Wir haben Kakao zu Hause...hast du Lust?", fragte mich Leah, als wir wieder auf unserer Straße waren. "Soll das ein Witz sein? Kakao ist mein zweiter Vorname!" Wir lachten wieder und gingen zu ihr. Sie gab mir ein Handtuch, damit ich die Pfoten von Bugs trocknen konnte. "Bugs, Pfote", wies ich ihn an und er gehorchte. Er gab mir eine Pfote nach der anderen.
Wir gingen rein und setzten uns an die Heizung, als wir unseren Kakao tranken. Bugs legte sich neben uns...er war so ein treuer Freund.
Die Welt war perfekt...

Und jetzt? Was war aus mir geworden?
Ich lag im Bett und erholte mich von meinem Anfall in der Nacht und von meinem Kater. Wahrscheinlich hatte ich es verdient. Tief in mir wusste ich, dass Alkohol keine Lösung war. Irgendwie machte dieser es noch schlimmer. Mein Kopf hämmerte und ich spürte meine Beine kaum. Noah kam mit einer Schüssel Suppe in das Zimmer. "Kein Alkohol mehr...mir egal, ob du mich jetzt hasst. Aber diesen Selbstzerstörungsdrang musst du dir abgewöhnen", sagte er und reichte mir die Suppe. Ich rappelte mich auf und nahm die Schüssel entgegen. "Ich will nur die Wahrheit wissen...hast du noch Kontakt zu ihm?", fragte ich mit brüchiger Stimme. "Ich hatte noch sehr lange Kontakt mit ihm und manchmal sehe ich ihn noch. Es war aber nie meine Absicht, dir dein Leben schwer zu machen", erzählte er und griff nach seiner Jacke, die über dem Schreibtischstuhl hing. "Ruh dich aus. Ich muss arbeiten", sagte er und verließ das Zimmer.
Ich blieb zurück und starrte auf die Hühnersuppe vor mir. Jedes Mal fragte ich mich, was wohl das kleine Mädchen von damals zu mir sagen würde, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Ganz sicher wäre sie nicht stolz. So hatte ich mir meine Zukunft einfach nicht vorgestellt...
Damals, als Bugs noch da war...da legte er immer seine Schnauze auf meine Oberschenkel, wenn ich traurig war. Er ließ mich nie alleine und war immer an meiner Seite.
Seine treuen Hundeaugen verrieten mir, alles würde wieder gut werden.
Ja, Bugs...vielleicht hattest du recht.

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...schnell und schmerzlos
Die ganze Nacht hatte ich getrunken und gekifft. Mein Leben wandte sich dem absoluten Tiefpunkt zu. Ich wusste auch gar nicht mehr, was genau passiert ist. Nur noch, dass ich am Ende ziemlich fertig war.
Ich lehnte an der Wohnzimmer-Wand einer fremden Wohnung. Naja, so fremd war mir Henry gar nicht. Wir waren öfter mal unterwegs, wenn ich wieder abstürzen wollte. Henry kam zu mir rüber und klopfte auf die Wand neben mir. "Ich geh pennen, wenn du willst kannst du mir Gesellschaft leisten", sagte er und fing an zu grinsen. Als Antwort bekam er nur einen schwachen Mittelfinger. Ich nahm Henry nur noch verschwommen war. Seine blonden Haare waren unter einer grauen Mütze versteckt. "Na gut, dann penn eben auf der Couch." Grade als er den Raum verlassen wollte, hörten wir es an der Türe klopfen. Zuerst dachte ich, es wäre die Polizei. Vielleicht hatten wir die Musik zu laut aufgedreht und die Nachbarn fühlten sich dadurch gestört. Moment...hörten wir überhaupt Musik? Welchen Wochentag hatten wir? Wie viel Uhr?
Henry verschwand und kurze Zeit später stand ein fassungsloser Noah vor mir. Nein! Der sollte verschwinden! "Henry du Penner! Die ist ja voll zu...", hörte ich Noah fluchen. Plötzlich kam mir ein Gedanke...wenn Noah hier war befand sich vielleicht auch mein Exfreund hier...sein bester Freund! Panisch sah ich mich in dem Raum um aber alles verschwamm mal wieder. Das beruhigte mich wenigstens. "Alter, das ist nicht mein Problem! Ich geh jetzt pennen. Mach was du willst", lallte Henry und verschwand wieder.
Noah kniete sich neben mich. "Zeynep hat mir gesagt, dass du hier bist. Ausgerechnet bei dem größten Saufkopf von uns...", fing er an. Dann streckte er seine Hand nach mir aus und strich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr. "Nein...du bist der Feind", zischte ich und lehnte meinen Kopf von ihm weg. "Heißt es in deiner Religion nicht auch, dass man vergeben soll? Zumal ich nichts gemacht habe, Honey", bemerkte Noah leise. Ich drehte meinen Kopf wieder in seine Richtung. "Sehe ich irgendwie religiös aus momentan? Da bist du bei mir grade an der falschen Adresse", gab ich zurück. Mir ging es gar nicht gut, überhaupt nicht. "Nein, du siehst momentan ziemlich bekifft aus", stellte er trocken fest. Anschließend versuchte er, mir aufzuhelfen.
Erinnerungslücke.

Wir waren in seiner WG und ich hing mal wieder mit dem Kopf über der Kloschüssel. Mir war gar nicht bewusst, wie viel ein Mensch kotzen konnte.
Irgendwann lies ich mich vor Erschöpfung fallen. Noah kam ins Badezimmer und half mir mal wieder auf. "Da weiß man gar nicht, ob du wegen dem Alkohol kotzt, wegen dem Gras oder wegen deinen Anfällen. Das macht die Sache nicht leichter", sagte er nachdenklich und setzte mich auf einen Küchenstuhl. "Ich kann dir nicht mal Tabletten geben, weil du schon so total zugedröhnt bist." Er kramte in einer Schublade und holte ein Päckchen heraus. Tee...auch noch Kamille, würg.
Als er meinen angewiderten Blick sah, lächelte er leicht. "Ich kann dir leider nichts anderes geben und außerdem wird es dir gut tun. Mach nicht so ein Gesicht." Ich legte meinen Kopf auf den Küchentisch und wartete auf das furchtbare Getränk.
Als ich den Tee ausgetrunken hatte, gingen wir in sein Zimmer. Mir ging es etwas besser, fühlte mich aber immer noch benebelt. Noah legte sich auf sein Bett und ich steuerte den Schreibtischstuhl an.
"Kann ich noch an deinen Laptop? Schlafen kann ich jetzt vergessen...mir ist zu schlecht...", sagte ich.

Ich war ganz unten angekommen. Wenn ein Mensch nicht mit Verlusten umgehen konnte, dann war ich das. Wahrscheinlich, weil ich die Menschen um mich herum so sehr liebte und alles für sie tun würde. Sobald ich sah, dass dies nicht auf Gegenseitigkeit beruhte...ja, da verletzte es mich einfach.
Für mich gab es niemals Freunde, alle waren Teil meiner Familie. Da lag das Problem: Ich liebte die falschen Menschen zu sehr. Ich musste damit aufhören schnell zu vertrauen und zu lieben.
Das machte keinen Sinn, denn früher oder später gingen sowieso alle.
Vielleicht musste ich lernen, so wie die anderen zu sein. Einfach mal an mich denken und an keinen anderen. Dann musste ich allerdings meine komplette Persönlichkeit ändern. Aus irgendeinem Grund, fühlte ich mich nämlich für die Probleme der anderen verantwortlich und ich mischte mich immer ein, um zu helfen. Damit musste jetzt Schluss sein! Von jetzt an hieß es: an mich denken...
Und Noah? Der war schon längst eingeschlafen, als ich den Laptop zuklappte.
Ich würde ihm nicht mehr vertrauen können. Fakt war aber, dass ich die Wahrheit über ihn einfach nicht kannte. Ich konnte in dem Zustand nirgends hin und meine Augen brannten vor Müdigkeit.
Also legte ich mich neben ihn und hoffte, ich würde schnell in den Schlaf gleiten.
Ausnahmsweise...schnell und schmerzlos.

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