Donnerstag, 9. Juni 2016
Verlorene Seelen
„Anastasia!“, schrie ich laut. Meine Stimme hallte über die gesamte Autobahnbrücke. Es war Nacht aber weder Sterne, noch der Mond waren zu sehen. Ich bekam keine Antwort. Stattdessen raste ein LKW direkt auf mich zu. Ich hob meine Hand und sorgte dafür, dass er anhielt und schließlich ganz verschwand. Das hier war mein Traum, also kontrollierte ich, was geschah. „Anastasia, komm sofort hier hin!“, brüllte ich lauter. Ich blieb am Rand der Brücke stehen, denn auch im Traum verfolgte mich die Höhenangst. Es war alles zu real. Eine kleine, zierliche Person kam auf mich zu. Das kleine Mädchen, eine achtjährige Version von mir. Ihre braun-blonden Haare waren streng zu einem Zopf gebunden. Sie trug mein Kommunionskleid. „Schrei doch nicht so“, meldete sie sich zu Wort. Wütend verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Wieso verfolgen mich diese Stimmen, wenn ich wach bin? Werde ich jetzt verrückt?“, fragte ich energisch. Anastasia sah sich unzufrieden um. „Es ist immer so finster in deinen Träumen“, stellte sie leise fest. Ich verdrehte meine Augen und schloss sie dann. Kurze Zeit später standen wir auf einem großen Spielplatz. Die Mittagssonne strahlte uns an, während Kinder hin und her liefen und spielten. „So besser?“, fragte ich genervt. „Also, was soll das alles?“ Anastasia knabberte an ihrer Unterlippe, so wie ich es immer tat. Sie war barfuß und spielte mit ihren Zehen im Sand. „Es ist nie gut sich in die Seelen von anderen zu schleichen“, bemerkte sie. „Ich habe mich nie in die Seelen von anderen geschlichen. Ich träume bloß“, entgegnete ich entschieden. „Das meine ich nicht. Du hast eine sehr sensible Seele. Eine, die es schafft Gefühle zu lesen. Solche Seelen sind empfänglich für sowas…“, erklärte Anastasia. „Für was?“, hakte ich nach. „Für Tote oder Verdammte“, meldete sich eine andere Stimme zu Wort. Eine Stimme, die mir sehr wohl bekannt vorkam. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Zeynep lehnte sich gegen ein Klettergerüst aus Holz und lächelte mich an. Sie trug ein kurzes, weißes Sommerkleid. Ihre dunklen Haare fielen ihr gelockt über die Schultern. Sofort brannten die Tränen in meinen Augen und das Bild von so viel Blut zuckte vor meinem inneren Auge. Ich blinzelte die Tränen weg und schluckte schwer. „Zeynep…“, hauchte ich erschüttert. Sie schüttelte mit dem Kopf. „Konzentriere dich bitte, es ist wichtig“, ermahnte sie mich freundlich. „Was meinst du mit Tote und Verdammte?“, wollte ich wissen, als ich mich soweit wieder gefangen hatte. „Dana und du, ihr habt doch gerne mit Ouija-Brettern hantiert. Das ist sowas, wie eine Eingangstür für verlorene Seelen. Und du bist das perfekte Opfer für sie. So gebrochen und sensibel, wie deine Seele ist, können sie mit dir spielen“, sagte Zeynep warnend. Ich hatte versucht mit Engeln in Kontakt zu treten, nicht mit verlorenen Seelen. „Das ist doch nicht real. Wir sind doch hier nicht in einem Hollywood-Streifen“, bemerkte ich hysterisch. „Woher meinst du haben die Produzenten den Stoff für ein gutes Drehbuch? Woher haben die Autoren ihre Ideen?“, stellte Zeynep die Gegenfrage. „Viel Fantasie“, gab ich zurück. „Das allein ist es nicht“, mischte sich Anastasia ein. Ich musste schwer Schlucken. Zeynep warf mir einen besorgten Blick zu. „Ich hab versucht mit Engeln zu sprechen“, gestand ich nachdenklich. „Bei dem Versuch hat dich jemand gehört aber es war kein Engel…“, stellte Zeynep traurig fest. „Woher willst du das Wissen?“, fragte ich leise. Zeynep kam auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Unterarm. Sie drehte meinen Arm so, dass man mein Handgelenk sehen konnte. „Weil Engel dich nicht verletzen würden“, antwortete sie und deutete auf den Kratzer auf meiner Haut. Fragend sah ich sie an. Wer sagte, dass ich es nicht selbst zu verschulden hatte? Als könnte sie meine Gedanken lesen, zeigte sie auf meine nackten Beine. Ich trug eine kurze Schlafhose, weshalb man meine blauen Flecken sehen konnte. „Nach jeder Nacht gibt es eine neue Verletzung. Das ist kein Zufall“, bemerkte Zeynep entschlossen und verzog das Gesicht empört. Plötzlich hallte mein Wecker durch die Landschaft und die Erde fing an zu beben. Risse bildeten sich im Himmel. „Der Traum kollabiert. Ich wache auf“, sagte ich erschöpft von den ganzen Neuigkeiten. Zeynep umarmte mich. „Pass auf dich auf“, flüsterte sie mir ins Ohr.

Ich wurde wach und mein Kopf dröhnte höllisch. Mein Zimmer war dunkel, doch durch die Ritzen meiner Vorhänge konnte man sehen, wie die Sonne langsam aufging. Ich griff nach meinem Handy und schaltete den Wecker ab. Dabei sah ich eine Nachricht von Marvin: >>Ich liebe dich<<.
Die Buchstaben der Nachricht verschwammen vor meinen Augen. Ich legte das Handy weg und beschloss zurück zu schreiben, wenn ich wieder vollkommen klar im Kopf war. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun. Deshalb sah ich mich skeptisch in meinem Zimmer um, weil ich mich beobachtet fühlte. Was, wenn es stimmte? Wenn ich wirklich eine verlorene Seele auf mich aufmerksam gemacht hatte? Oder ich verlor echt den Verstand. In dem Fall würde ich bald zu Leonie in die Psychiatrie kommen und keinem wäre damit geholfen. Ich stand auf, nahm ein kleines Kissen von meinem Bett und drückte es an mein Gesicht. Anschließend schrie ich so laut ich konnte hinein. Das tat gut, die ganze aufgestaute Verzweiflung raus zu lassen. Meine Oma öffnete die Zimmertüre und schaute mich irritiert an. „Was machst du da?“, fragte sie. Ich warf das Kissen zurück auf das Bett und ging an ihr vorbei, Richtung Badezimmer. „Ich bin ein Morgenmuffel“, sagte ich und das war nicht mal gelogen.

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Herzschlag
„Ich liebe dich nicht mehr.“ Dieser Satz verfolgte mich. Bei jedem Fehler den ich beging, bei jeder noch so kleinen Kleinigkeit, die mich aus der Bahn warf. Dieser Satz hatte mich geprägt. Ich hatte dafür gesorgt, dass der liebenswürdigste Junge den ich kannte mich betrog. Ich hatte ihn verändert…ihn so eiskalt und leer gemacht. Es war meine Schuld, welche mich immer wieder heimsuchen sollte…

Als er ging, hinterließ er ein so großes Loch, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es jemals würde füllen können. Seine letzten Sätze schwirrten in meinem Kopf, lange nachdem er meine Wohnung verlassen hatte. Eric war immer so warm und herzlich gewesen. Die Betonung lag auf war, denn das war lange vorbei. Als er mich verließ, konnte ich die Kühle in seiner Stimme nicht überhören. „Ich liebe dich nicht mehr. Und ich hoffe nur, dass du irgendwann einen Mann finden wirst, der mit deinem Leben klar kommt. Der dich so lieben kann.“ Das Schlimmste an der Sache war, dass er recht hatte. Es war unglaublich schwer mich zu lieben. Nachdem ich die Türe hörte, wie sie klickend ins Schloss fiel, wurde mir bewusst, dass ich alleine war. Keine Familie würde mich nun auffangen und meine Freunde würden es nicht verstehen. Ein heftiger Schmerz füllte meine Brust aus. Dort, wo sich vorher mein Herz befanden hatte, schien jetzt ein schwarzes Loch zu sein, welches alle meine Gefühle aufsaugte. Ich ging ins Bett…weinte und schrie eine Woche lang. Ich dachte nicht daran aufzustehen, zu essen oder zu trinken. Es gab nur noch meinen Schmerz. In der zweiten Woche hatte ich aufgehört zu weinen. Ich starrte einfach an die Decke und bewegte mich nicht. So fühlte es sich also an. Das gefürchtete, endlose und quälende Nichts. Vielleicht war ich grade dabei zu sterben. Dagegen hatte ich nichts.
Nach ungefähr drei Wochen klopfte es an meine Türe. Ich erwartete meine Oma, weil sie ständig in mein Zimmer platzte und sich darüber ausließ, dass ich immer noch im Bett lag. Die Türe öffnete sich langsam. Ich sah nicht hin, sondern starrte weiter an die weiße Decke meines Zimmers. So als würde dort der Sinn des Lebens stehen. „Atmet sie noch?“, hörte ich Dana fragen. Es war das erste Mal, dass ich meinen Kopf drehte und jemandem direkt in die Augen sah. „Entweder das, oder sie ist ein Zombie geworden“, antwortete Noah und grinste, als er mich ansah. Beide standen mitten im Raum und sahen sich geschockt um. Dana schlenderte zu den Fenstern, um die Vorhänge aufzuziehen. „Vielleicht stirbt sie ja, wenn sie Sonnenlicht trifft“, scherzte Noah und setzte sich auf den Hocker neben meinem Bett. Er stützte seine Ellbogen auf seine Oberschenkel und zwinkerte mir zu. Dana rollte mit ihren grünen Augen und zog mir die Decke vom Körper. Ich trug ein viel zu großes T-Shirt von „The Walking Dead“ und eine Boxershorts. Genervt drehte ich mich auf die Seite und hoffte, die Beiden würden endlich verschwinden. „Ich hab dir doch gesagt, der Typ ist ein Spinner“, sagte Noah, wie selbstverständlich. Mir war nicht danach, über Eric zu lästern. „Schmollen bringt auch nichts. Wie wäre es, wenn du aus dem Bett kommst, dich wäscht und wir dann etwas zusammen machen?“, schlug Dana zuversichtlich vor. Nein, ich wollte nichts machen. Das war wie in diesen Filmen, in denen ein Mädels-Tag reichte, um das arme, verlassene Mädchen aufzumuntern. So ein Tag würde mir nicht helfen. „Ich brauche keinen Mädels-Tag“, jammerte ich in mein Kissen. Noah räusperte sich. „Das nehme ich jetzt mal als Kompliment“, lachte er los. Dana stieg in sein Lachen mit ein. Als mir auffiel, dass ich Noah grad als Mädel betitelt hatte, prustete auch ich los. Das Lachen tat irgendwie weh aber es fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen. Ich setzte mich auf und schaute die Beiden an. „Nein, jetzt mal im Ernst…was wollt ihr machen?“, fragte ich hoffnungslos. Dana nahm ihre Tasche von der Schulter und kramte darin. Kurz darauf hielt sie mir eine Wodka-Flasche entgegen. „Wir desinfizieren deine Seele.“

Von da an begann ich wieder raus zu gehen, hauptsächlich auf Partys. Jedes Mal, wenn es mir schlecht ging, drehte ich die Musik auf und trank. Der Alkohol wurde mein Ventil und leider auch die Drogen, als ich Henry kennen lernte. Doch das ist eine andere Geschichte. Wie das mit dem High Gefühl so ist, verschwindet es irgendwann. Und sobald man nüchtern ist und die Wahrheiten sieht, die man sich vorher weg getrunken hat, wird einem klar in welchem Teufelskreis man sich befindet. Also baute ich mir eine Mauer auf. Ich ließ keinen mehr an mich heran…bis er kam und mir zeigte, dass man mich sehr wohl lieben konnte.
Er sprengte die Mauer und brachte mir bei, das Leben wieder anders zu sehen. Doch leider empfand ich nie das Gleiche wie er. Ich war ihm unglaublich dankbar, denn er ebnete mir den Weg zu den Gefühlen die ich brauchte, um einen Mann überhaupt glücklich machen zu können. Noah wurde mein Lehrer, meine Familie aber nicht mein Mann. Denn das Schicksal lenkte mich in die Richtung eines anderen Mannes und meine Neugier trieb mich weiter zu ihm. Vielleicht war ich noch nicht bereit für Noah, vielleicht würde ich dies nie sein. Timing ist ein Arschloch, das wurde mir klar. Auf meiner Reise, auf meiner Suche nach Liebe wurde ich oft enttäuscht. Doch es ist wichtig zu wissen, dass ich selbst auch oft enttäuscht habe. Von Kindertagen an verbrachte ich die Zeit damit, andere Menschen zu beobachten und zu erforschen, was Liebe ist. Ich meine, eine aufrichtige, bedingungslose Liebe. Diese durfte ich nie erfahren. Als Eric kam und versuchte mir diese zu zeigen, war es längst zu spät. Ich war zu einem Monster geworden, welches die Gefühle von anderen auf sog und nichts zurück gab. Bis er ein komplett anderer Mensch wurde, der sich später alles zurück holte. Die ganzen Gefühle und mein Herz. Noah gab mir die Gefühle zurück aber mein Herz blieb still.
Erst als ich in die blau-grauen Augen von Marvin sah, schien es, als würde mein Herz wieder schlagen. Das erste Mal, seit Jahren.

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