Freitag, 1. Juli 2016
Prinzessin, für eine Nacht
Der weiße Umschlag wog vielleicht nicht viel…doch in meinen Händen fühlte er sich schwer an, so als wollte er mich auf den Boden der Tatsachen ziehen. Es war der Morgen nach meinem Abi-Ball. Ich saß auf der Bettkante in meinem Zimmer und starrte auf den Umschlag in meinen Händen. Meine große Schwester Lisa schlief noch tief und fest. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an den letzten Abend, die letzte Nacht…

Ich fühlte mich wie eine Prinzessin, als mein Onkel aus seinem Auto stieg, um mir hinten die Türe auf zu machen. Meine beste Freundin Leah hatte super Arbeit geleistet, als sie mich für diesen Abend geschminkt hatte. Vorsichtig stieg ich aus dem Auto, denn ich wollte mein langes Ballkleid nicht dreckig machen. Mein Ballkleid war hell-rosa und passte mir perfekt, nachdem meine Schneiderin es etwas gekürzt hatte. Dazu trug ich hohe Schuhe und eine schöne Clutch-Tasche. Meine Haare fielen mir wellig auf die Schultern. Alles in allem, war ich sehr zufrieden mit mir. Mein Onkel, seine neue Freundin und meine Oma bestaunten mich wortlos und bahnten sich dann einen Weg durch die anderen Gäste, um in den Saal zu gelangen. Es war noch spät am Nachmittag, weshalb die Sonne schien. Meine Schwester hastete hinter, damit sie ihnen helfen konnte. Ich begrüßte einige Schulfreunde von mir und wollte grade in das Gebäude gehen, als mich jemand aufhielt. „Siehst gut aus, Honey“, hörte ich eine männliche Stimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und musste lächeln. Noah stand auf dem Parkplatz und lehnte gegen sein schwarzes Auto. Er sah nicht so aus, als würde er zum Ball kommen wollen, denn er trug ein schlichtes, schwarzes Shirt und eine dunkelgrüne Hose. Als würde er gleich zur Armee gehen. „Was machst du denn hier?“, fragte ich ihn überrascht, als ich bei ihm ankam. Mit diesen hohen Schuhen dauerte es etwas länger. „Ich wollte dir auch gratulieren. Du hast es echt weit geschafft.“ Grinsend klatschte er kurz in die Hände und musterte mich. Dabei wurde sein grinsen zu einem schwachen Lächeln, bis es ganz verschwand. „Heute vor einem Jahr warst du noch ganz verzweifelt und fragtest mich, ob du nach der Sache mit Eric jemals wieder jemand anderen würdest lieben können. Und jetzt guck dich an...du hast es geschafft. Wenige haben damit gerechnet aber du hast es allen gezeigt“, stellte er fest. „Sieht wohl so aus. Danke, dass du gekommen bist“, erwiderte ich freundlich. Keiner sagte mehr etwas, bis Noah sich räusperte. „Gut, also ich wollte dir etwas geben.“ Noah kramte in seiner Gesäßtasche und reichte mir schließlich einen weißen Umschlag. Ich nahm ihn und sah dann fragend zu Noah. „Das ist sozusagen eine Einladung von meinen Eltern aus Amerika. Du kannst für ein halbes Jahr dorthin, wenn du willst. Dann kriegst du etwas Abstand von all deinen Problemen. Am besten, du fliegst im Sommer. Dann kommst du zur Tornado-Saison und kriegst dein Bild…“, erklärte er. Ungläubig starrte ich auf den Umschlag. Nach Amerika? Für ein halbes Jahr? Klar, es war mein Traum einen Tornado zu fotografieren. Wenn ich etwas besser in Naturwissenschaften wäre, würde ich etwas in der Art studieren. Ich würde helfen ein Frühwarnsystem zu entwickeln und somit tausende von Menschenleben retten. Doch das fand nur in meiner Fantasie statt. Das hier war das wahre Leben. Enttäuscht schaute ich Noah in die Augen. Er sah aus, wie ich mich fühlte. „Ich kann nicht einfach weg fliegen. Schon allein wegen Marvin…“, bemerkte ich traurig und wollte ihm sein Geschenk zurück geben. „Nein, behalt es…vielleicht denkst du nochmal darüber nach. Aber nicht heute. Heute sollst du einen schönen Abend haben. Trink aber nicht so viel“, bat er mich. Man merkte, dass er seine Selbstbeherrschung trainiert hatte. Damals wäre Noah in dieser Situation ausgerastet. Er atmete durch und beugte sich zu mir, um mich zu umarmen. Danach öffnete er seine Auto-Türe. „Willst du vielleicht ein Glas mit mir trinken? Wir stoßen an“, bot ich an und deutete auf den Eingang. „Nein Honey, ich trinke nicht mehr, wenn ich traurig bin“, sagte er und lächelte schwach. „Aber sonst trinkst du noch?“, hakte ich überrascht nach. Noah hielt inne und senkte den Blick. „Ich glaube, wenn ich mich an diese Regel halten möchte, muss ich ganz aufhören Alkohol zu trinken.“

Der Saal war riesig und schön geschmückt. Überall standen Gruppen von Schülern, die sich mit ihren Familienmitgliedern unterhielten. Ich steckte den Umschlag in meine Clutch und steuerte den Tisch an, an dem meine Leute saßen. (…)
Der Abend verlief gut. Das Essen war sehr lecker und das Programm in Ordnung. Im Laufe des Abends wurden viele Bilder geschossen. Meine Schwester Lisa sah auch wunderschön aus. Sie trug ein weinrotes Kleid, welches ihr bis zu den Knien ging. Ihre schwarzen Haare waren auch wellig. Ähnlich wie meine. Gegen zehn Uhr abends verließen die älteren Gäste den Saal, weil die richtige Party los ging. Auch meine Familie verabschiedete sich, bis auf meine Schwester. Wir suchten uns einen Platz direkt an der Tanzfläche. Alle saßen auf ihren Plätzen und trauten sich nicht zu tanzen. Das war wieder so typisch. Der DJ legte ein Lied nach dem anderen auf. Also lag es jedenfalls nicht an ihm. Die Tanzfläche leuchtete in verschiedenen Farben…sie lud mich quasi ein. Lisa mochte es wirklich nicht zu tanzen…vor allem nicht, wenn jeder sie sehen konnte. Deshalb nahm ich eine Schulfreundin an die Hand und schleifte sie auf die Tanzfläche. Wir bewegten uns übertrieben zur Musik und zogen alle Blicke auf uns, bis wir Gesellschaft bekamen. Nach und nach füllte sich die Tanzfläche. Zufrieden kickte ich meine Schuhe unter meinen Stuhl und begann barfuß zu tanzen. Meine Schwester unterhielt sich währenddessen mit Schulfreunden von mir und passte auf unsere Taschen auf. Immer wieder drückte mir eine andere Freundin oder ein anderer Freund, ein Glas in die Hand. Je mehr ich an meine Zukunft dachte und an den Umschlag in meiner Tasche, desto mehr brauchte ich Alkohol. Außerdem sollte dieser Abend schön werden. Kopf aus, Musik an! (…)
Stunden vergingen und irgendwann stießen Marvin und seine Freunde dazu. Ich freute mich, dass er gekommen war. Er setzte sich zu meiner Schwester und sprach mit ihr. Ich war so vertieft in das Tanzen, dass es mir grade recht kam. So konnten sie sich wenigstens besser kennen lernen. Eine ehemalige Schulfreundin, Vivien, setzte sich an den gleichen Tisch und unterhielt sich mit ihrem Freund, auf dessen Schoß sie saß. Während ich mit meinen Schulfreunden tanzte, warf ich immer mal wieder einen Blick auf meine Leute, um zu gucken, ob es ihnen gut ging. Egal, wie viel Alkohol ich intus hatte, ich hörte nie auf, mich um meine Leute zu kümmern. Das mochte ich an mir selbst. Vivien stand bei Marvin und flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann erhob er sich und ging mit ihr weg. Abrupt hörte ich auf zu tanzen und stieß gegen Jonas, der wie wild am tanzen war. Ich bekam ein komisches Gefühl im Magen, so als würde er sich zusammen ziehen. Meine Schwester bemerkte die Situation und kam auf mich zu. Ich sah zu unserem Tisch, an dem der Freund von Vivien saß, der mich schon die ganze Zeit widerlich beäugte. Er zwinkerte mir seltsam zu, als sich unsere Blicke trafen. Mir wurde übel und ich wandte mich schnell meiner Schwester zu. Irgendetwas stimmte nicht. Die Musik war so laut, dass meine Schwester dicht an mein Ohr kommen musste, um etwas zu sagen. „Soll ich hinterher gehen? Bleib ruhig, ich mache das schon“, rief sie. Anstatt etwas zu sagen, nickte ich dankbar. Meine Schwester lächelte matt und ging in die Richtung, in der Marvin zuvor mit Vivien verschwunden war. Perplex blieb ich stehen, wie erstarrt. Meine Freundin Denise kam auf mich zu und sah mich mitfühlend an. „Was geht denn da ab?“, schrie sie über die Musik hinweg. „Ich weiß auch nicht, was das soll…“, gab ich zurück. Kurze Zeit später kam meine Schwester zurück und setzte sich auf ihren Stuhl, alleine. Sie suchte meinen Blick und zuckte ratlos mit den Achseln. Denise wirkte angespannt. „Sollen wir gucken gehen? Das macht man doch nicht!“, brüllte sie. Wütend rümpfte ich die Nase. Marvin war wegen mir dort und ging alleine mit dieser fragwürdigen Person weg. „Danke! Lass uns gucken!“ Denise ging voran. Mühsam bahnten wir uns einen Weg durch die Masse, die immer betrunkener wurde. Plötzlich packte mich jemand an der Hand. Jonas tanzte mich an und näherte sich meinem Ohr. „Hast du eigentlich einen Freund oder habe ich noch eine Chance?“, wollte er lallend wissen. Ich grinste ihn an, denn ich wusste, dass er mich nur so plump anbaggerte, weil er besoffen war. „Du bist voll, deshalb fragst du. Trink nicht so viel!“, wies ich ihn an und löste mich aus seinem Griff. Denise und ich kamen schließlich an der Bar an, an der ich Marvin und Vivien erkennen konnte. Gab er ihr jetzt etwas aus? Nachdem sie…was auch immer gemacht hatten? Vielleicht war es der Alkohol, der mich antrieb aber das war mein Abend. Den wollte ich mir nicht versauen lassen. Schon allein, wie Vivien gekleidet war. Kürzer ging der Rock nun wirklich kaum. Denise war mir dicht auf den Versen, als ich zu den Beiden ging und sie, bei was auch immer, unterbrach. „Gibt’s hier ein Problem?“, fragte ich mehr als aggressiv. Vivien zuckte ängstlich zurück und ihre Augen weiteten sich. Gut, sie hatte zumindest Respekt vor mir. Das sollte sie auch haben. „Nein…wieso denn?“, stotterte sie. Ich hätte so vieles sagen oder machen können…aber ich bemerkte den besorgten Blick von Denise. Wir wollten einen schönen Abend haben. „Ich wollte nur fragen, ob es hier ein scheiß Problem gibt?“, knurrte ich wütend, dabei warf ich Vivien einen finsteren Blick zu. Marvin konnte ich nicht ansehen, denn ich war viel zu enttäuscht. Sonst wäre ich echt aus der Haut gefahren. Bevor ich die Fassung verlor, griff ich nach der Hand von Denise und ging zurück auf die Tanzfläche. (…)
Die ganze Nacht tanzte ich und ignorierte jedes Problem. In dieser Nacht sollte es nur mich und meinen Erfolg geben. Es sollte nicht, wie jedes Mal, in einem Drama enden. Diese Nacht hatte ich mir verdient. Die Sache mit Marvin beruhigte sich im Laufe des Abends, denn Vivien hielt sich nun fern. Gut, sie hatte Angst. Zufrieden bewegte ich meinen Körper zu der Musik. Auch, wenn es viele Komplikationen gab, war diese Nacht perfekt. Früh morgens gingen wir ins Bett und ich schlief mit einem Lächeln ein.

Leise schlich ich mich aus meinem Zimmer, denn ich wollte meine Schwester nicht wecken. Ich ging in das Schlafzimmer meiner Großeltern, denn dort hing ein riesen Bild vom letzten Abendmahl. Jesus saß mittig am Tisch, während die Jünger zu ihm sahen. Dieses Bild war mir sehr wichtig, denn hier konnte ich in Ruhe beten. Als ich so durch die Wohnung tapste, bemerkte ich, dass meine Füße weh taten und blutig waren. Anscheinend hatte ich sehr viel getanzt. Das war nicht schlimm. Es zeigte mir, dass ich die Nacht nicht geträumt hatte...dass ich wirklich eine Prinzessin war, wenn auch nur für eine Nacht. Ich kniete mich auf den Boden vor dem Bild und faltete meine Hände ineinander. Gut, dass meine Großeltern nicht zu Hause waren, so hatte ich Raum. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes…bitte, erhöre mich…“ (…)
Nach meinem Gebet versteckte ich den Umschlag im Schlafzimmer-Schrank und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Ich würde hier keinen im Stich lassen und einfach weg fliegen. Aber allein die Möglichkeit, alles hinter mir lassen zu können, beruhigte mich. Jedes Schiff braucht ein Rettungsboot. Vor allem, so eine Titanic, wie ich es bin.

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Erscheinung
Der Streit mit meinen Freunden ging nicht spurlos an mir vorbei. Deshalb wollte ich mich am Abend mit einem Kinobesuch ablenken. Zwei Freundinnen von mir luden mich ein, was mir grade recht kam. (…) Der Abend verlief sehr gut. Ich konnte sogar lachen. Mitten in der Nacht fuhr ich meine Freundinnen nach Hause. Manchmal nervte es, die Einzige mit einem Auto zu sein. Das hatte zwar durchaus Vorteile aber am Ende spielte man doch das Taxi für jeden. Müde parkte ich mein Auto neben der Straße. Mein Kopf begann zu pochen. Mit zusammengekniffenen Augen legte ich meine Finger auf meine Schläfen. Langsam umkreiste ich die schmerzende Stelle. Draußen war es still und dunkel. Selbst die Straßenlaternen leuchteten nur schwach. Gut, dass ich nur eine Minute zur Haustüre brauchte. Nachdem das Pochen etwas nachgelassen hatte, nahm ich meine Handtasche und stieg aus dem Auto. Mir wurde eiskalt. Ich hätte mir doch etwas Wärmeres anziehen sollen. Eine lange Jeans und ein langes Shirt reichten wohl für diesen Sommer nicht aus. Zitternd schloss ich mein Auto zu. Da bemerkte ich es und blieb geschockt stehen. Weiter hinten auf der Straße stand jemand und starrte direkt zu mir. Genauso fingen Horrorfilme doch an! Die Angst lähmte mich, während die Gestalt eine Hand hob, um zu winken. Egal wie sehr ich mich anstrengte…ich konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Wobei ich eher zu einem Mann tendierte. Für einen Moment schien die Welt stehen geblieben zu sein. Plötzlich hielt mir jemand von hinten die Augen zu. „Hey!“, begrüßte mich Michelle, eine Freundin aus meiner alten Schule. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, weil ich mich richtig erschrocken hatte. Ich fuhr zusammen und wirbelte herum. Michelle war ein Kopf kleiner als ich. Was süß war, denn selbst ich war nicht groß. Sie hatte sehr dicke, braune Haare und trug dunkelblaue Jeans und ein Blümchen Oberteil. Grinsend musterte sie mich. „Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen!“, bemerkte sie lachend. Ich drehte mich noch einmal um, um zu gucken, ob dieses Etwas noch da war. Doch die Straße war leer. „Wen suchst du?“ Verwirrt wandte ich mich wieder Michelle zu. „Niemanden. Ich wollte grade nach Hause gehen. Und erschreck mich nie wieder so!“, ermahnte ich sie scherzhaft. Sie hob unschuldig die Hände. „Was machst du überhaupt hier…mitten in der Nacht?“, fragte ich schließlich, als mir die Uhrzeit einfiel. Michelle setzte wieder ihr typisches Lächeln auf. „Mein Freund wohnt doch nur eine Straße weiter.“ Ach ja, das hatte ich vollkommen vergessen. „Trotzdem ist es gefährlich hier Nachts rum zu laufen“, stellte ich fest. Dabei hörte ich mich an, wie eine besorgte Mutter. Oh man…diese Gestalt hatte mich echt verwirrt. „Ich geh ja schon. War schön, dich zu sehen!“, verabschiedete Michelle sich freundlich.
Als sie verschwand, warf ich noch einige Blicke auf die Straße aber diese Person…war nicht mehr aufzufinden.

In der Wohnung ging es mir immer schlechter. Meine Körpertemperatur stieg auf über 40 Grad, mein Hals schmerzte und durch meine Nase bekam ich keine Luft. Super…das alles fühlte sich stark nach einer Grippe an. Oder sowas ähnliches. Also zog ich mir eine kurze, weiß-blaue Schlafhose an, ein dazu passendes Top und band mir die Haare nach hinten. Ich spürte schon, dass ich jetzt für einige Tage im Bett liegen würde. Das passte mir gar nicht, denn in meiner Wohnung gingen echt seltsame Dinge ab. Genervt tapste ich von meinem Zimmer zur Küche. Dabei ließ ich im Flur das Licht aus und bewegte mich möglichst leise, denn meine Großeltern schliefen bereits. In der Küche knipste ich dann doch das Licht an und ließ den Wasserkocher aufkochen. Nichts ging über einen heißen Pfefferminztee. „Hallo…“, hörte ich eine Flüsterstimme sagen. Na toll, ging das schon wieder los! Ängstlich blickte ich von der Küche, direkt in das dunkle Wohnzimmer. Die Balkontüre stand offen und der Wind wehte die Gardine in den Raum. „Super…überhaupt nicht spooky oder sowas“, fluchte ich ins Leere. Meine nackten Füße verweilten etwas auf den kalten Küchenfliesen, bevor ich mich traute zur Balkontüre zu gehen. Der Plan war es gewesen, einfach die Tür zu schließen und wieder in die Küche zu rennen. Doch durch die Fenster sah ich es…diese Gestalt stand wieder auf der Straße. Direkt vor meiner Wohnung. Ich trat auf den Balkon und sah hinab. Komischerweise hatte ich auf unseren Balkon noch nie Höhenangst gehabt. Diese Gestalt hob schon wieder die Hand, um zu winken. Eine Gänsehaut breitete sich über meine Arme aus. „Spring…“, hörte ich. Spring? Vom Balkon? Ja ne, ist klar. Vielleicht träumte ich das alles nur. Oder es waren Einbildungen, die aufgrund des hohen Fiebers einsetzten. Egal was es war, ich würde nicht springen! „Verpiss dich“, zischte ich entgeistert und rannte wieder ins Wohnzimmer, wo ich die Balkontüre zu knallte.
Auf schnellstem Wege machte ich mir meinen Tee und verschwand in meinem Zimmer. Meine Knochen fühlten sich an, als wären sie aus Glas. Lange würde ich nicht mehr laufen können. Müde schlürfte ich meinen Tee aus und legte mich schließlich ins Bett. Der Fernseher lief noch ein bisschen, weil ich nicht in der Dunkelheit liegen wollte. Manchmal bekam ich es mit der Angst zu tun. Was ist, wenn diese Erscheinungen nichts mit dem Fieber zu tun hatten? Wie oft waren mir schon komische Dinge passiert? Zu oft! Plötzlich krallte sich etwas an meine nackte Wade und zog daran. Vor lauter Schreck verschluckte ich mich und gab ein seltsames Geräusch von mir. Panisch sprang ich auf und guckte mich in meinem Zimmer um. „Verdammt!“, kreischte ich. Danach betrachtete ich meine linke Wade. Dort befand sich ein blutiger Kratzer. Das konnte keine Einbildung sein. Erschüttert ließ ich meine Augen erneut über mein kleines Zimmer wandern. Was hatte es damit auf sich? Ich lief zurück ins Bett und versteckte mich vollkommen unter der Bettdecke, bis mein Herz sich einigermaßen beruhigt hatte. Sowas würden mir die meisten Menschen sowieso nicht glauben. Deshalb hielt ich es für abwegig meine Großeltern zu wecken, geschweige denn, jemanden anzurufen. Nach einigen Minuten tastete ich auf der Bettdecke, nach meinem Handy. Mit irgendeinem Menschen musste ich jetzt Kontakt haben, damit ich wusste, dass ich wirklich nicht träumte. >>Bist du immer noch sauer auf mich? <<, fragte ich Dana per SMS. Lange musste ich nicht auf meine Antwort warten. >>Ja, aber du musst selbst wissen, was du machst. Wieso bist du noch wach? << Vorsichtig schaute ich mich im Zimmer um aber ich konnte nichts Verdächtiges entdecken. Also wandte ich mich wieder dem Handy zu. >>Kann einfach nicht schlafen…muss über vieles nachdenken. Und was ist mit dir? << Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Von der komischen Gestalt berichtete ich Dana nicht. >>Hab noch lange mit Noah gesprochen…aber vergessen wir das Thema. :-/ Ich will nur, dass du die richtige Entscheidung triffst und Marvin nicht als dein Projekt ansiehst. Du kannst nicht jeden Menschen besser machen. << Dana machte sich nur Sorgen aber Marvin war mehr, als ein Projekt. Und ich wollte nicht mehr mit ihr diskutieren, denn die Streitigkeiten mit Marvin kosteten mich schon genug Nerven. >>Ich bin trotzdem noch für euch da. Ich muss nur einige Abstriche machen und mich etwas zurück ziehen. Hoffentlich kannst du das irgendwann verstehen :- ). << Das war die letzte Nachricht, die ich eintippte. Danach verlor ich das Bewusstsein.

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Priorität
Der Moment der Wahrheit war gekommen. Jetzt würde sich zeigen, ob das Brücken-Training mit all meinen Freunden was gebracht hatte. Ich stand mit meinem Arzt Dr.Görgels und meinen Freunden Dana und Noah am Rand der Brücke. Auf der Brücke konnten sowohl Autos fahren, als auch Fußgänger gehen. Es war ein bewölkter Vormittag. Hin und wieder tropfte der Regen auf meine Stirn. Nervös trat ich von einem Fuß, auf den anderen. Der Arzt hatte mir ein Pulsmessgerät an mein linkes Handgelenk gebunden, um zu gucken, was die Angst in mir auslöste. Keiner sprach ein Wort. Alle schauten mich erwartungsvoll an. Ich sollte den ersten Schritt gehen. Meine Höhenangst war echt extrem aber ich konnte es mir selbst nicht erklären. Sobald meine Füße registrierten, dass sie nicht mehr unter festem Boden standen, war es vorbei. Dann war ich, wie gelähmt. Ich starrte auf den Fußweg der Brücke und auf das dünne Geländer, welches mich von der Tiefe und dem Wasser unter der Brücke trennte. Eigentlich war ich vor kurzem über genau diese Brücke gegangen. Ein Freund von mir, Luca, hatte mich mit Musik von *The Fray* dazu gebracht, zweimal über diese Brücke zu laufen. Viele Menschen unterschätzen die Kraft der Musik. Durch die Musik konnte ich meine Panik tatsächlich soweit kontrollieren, dass meine Beine nicht nachgaben. An diesem Tag war ich so stolz auf mich gewesen. Aber jetzt war es anders, jetzt hatte ich keine Musik. Und eigentlich sollte ich es auch ohne Musik können. Mein Hals wurde nur vom Anblick dieser Brücke trocken. Als ich schluckte, brannte meine Kehle. Die Panik schlich von den Zehenspitzen, bis zu meinen Haarwurzeln. Noah beäugte mich wissend und setzte sich schließlich in Bewegung. Er schlenderte an uns vorbei und ging bis zum anderen Ende der Brücke. Dort blieb er stehen, steckte seine Hände in die Jeanstaschen und zwinkerte mir zu. „Wir können es in Etappen machen“, rief er uns zu. Der Arzt nickte und schrieb es auf sein Klemmbrett, welches er festhielt, als stünde dort die Lösung für mein Angst-Problem. Wahrscheinlich zeichnete er bloß Strichmännchen, die sich erhängten. Kichernd über diesen Gedanken, sah ich zu Dana, die sich ebenfalls auf den Weg machte und bis zur Mitte der Brücke lief. Als sie da ankam, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Geländer und strich sich über ihre schwarzen, engen Hosen. Dazu trug sie eine weiße Bluse, die ihr oben herum etwas zu eng war. Ihre roten Haare hingen in Locken auf ihrem Rücken. Ich sah zum Arzt, auf dessen Stirn sich ein Schweißfilm bildete. Verständlich, denn er trug einen Pullunder, obwohl es recht warm war. Er sah mich auffordernd an und deutete auf meine Freunde. Gut, es war soweit. Ich versuchte die Angst runter zu schlucken und setzte meine Beine in Bewegung. Jedoch kam ich nur bis zu Dana. Meine Finger krallten sich panisch in ihren Oberarm, während ich geschockt über das Geländer sah. Das trübe Wasser unter der Brücke verschwamm und meine Ohren piepten. Dana bewegte ihren Mund, also sprach sie…aber ich konnte kaum etwas verstehen. Mein Kopf wandte sich zu meinem Arzt, der energisch Notizen machte und dann zu mir guckte. „Wovor hast du jetzt genau Angst? Du bist doch schon über diese Brücke gegangen. Das hast du mir erzählt, weißt du noch?“, fragte mich der Arzt, der immer näher zu uns kam. „Ja…da hatte ich Musik“, stotterte ich verzweifelt. Dana seufzte und strich mit ihren Händen über meine Oberarme. „Wir haben jetzt aber keine Musik hier. Willst du zurück gehen?“, wollte der Arzt von mir wissen, der jetzt direkt neben mir stand. Seine Stimme klang ruhig und es lag kein Vorwurf darin. Generell waren alle sehr geduldig mit mir und meiner Angst. Ich wollte mich umdrehen und mit dem Arzt zurück gehen. „Some sort of window to your right, as he goes left and you stay right…“, begann Noah vom anderen Ende der Brücke zu singen. Er schrie es mehr, als er wirklich sang. Überrascht drehte ich mich um und starrte grinsend in seine Richtung. „Between the lines of fear and blame, you begin to wonder why you came!“, setzte Dana ebenfalls ein und lächelte breit. Jetzt fingen sie auch noch an *How to save a life* von *The Fray* zu trällern! Lachend sah ich zum Ende der Brücke und wusste, ich konnte es schaffen. Meine Beine fühlten sich zwar an wie Pudding aber ich musste einfach dagegen ankämpfen! „Where did I go wrong? I lost a friend…somewhere along in the bitterness…“, sang ich nervös und ging auf Noah zu. Mir wurde schlecht. Zwischenzeitlich hatte ich sogar Angst mich zu übergeben. Aber ich lief weiter. „And I would have stayed up with you all night“, stieg Noah wieder ein und ermutigte mich. Es waren nur noch wenige Schritte. „Had I known how to save a life!“, sangen wir beide, als ich endlich auf der anderen Seite der Brücke ankam. Überglücklich schaute ich zurück. Dana klatschte freudig in ihre Hände und strahlte mich an. Der Arzt nickte und lächelte zufrieden. Noah hielt mir seine Handfläche hin, damit ich abklatschen konnte. „Du liebst also immer noch *The Fray*“, bemerkte Noah belustigt. Er lachte kurz aber man merkte, dass etwas anders war, als sonst. Konnte man ihm das verübeln? Wahrscheinlich nicht. „Das hat auch geklappt, als ich einmal mit Luca über die Brücke gelaufen bin. Unfassbar“, stellte ich fest. Ich war erleichtert aber auch erschöpft. Die Angst auszublenden kostet mich sehr viel Kraft. Mein ganzer Körper steht dann unter Strom.

Zurück in der Arztpraxis wertete der Arzt meine Pulsmessungen aus. Dana und Noah warteten im Wartezimmer. Dr.Görgels führte mich durch einen schmalen Flur, zu seinem Sprechzimmer. Das Sprechzimmer war sehr hell und ein großer, weißer Tisch stand mitten im Raum. Ich setzte mich auf einen Stuhl vor den Tisch und wartete. Dr.Görgels kramte die Unterlagen hervor und legte sie vor sich, nachdem er sich gegenüber von mir hingesetzt hatte. Seine dunklen Haare bekamen schon einen grauen Ansatz und er hatte sich schon einige Tage nicht mehr rasiert. Tiefe Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Dabei war doch alles gut gelaufen. „Deine Angst ist sehr…sehr enorm“, fing der Arzt an. „Ich habe selten so eine Kurve gesehen, wie bei diesen Messungen. Dein Puls geht schon über 180. Dein Körper reagiert extrem panisch. Ein Wunder, dass du nicht umgekippt bist.“ Naja, dass ich Angst hatte, wusste ich bereits. Fragend sah ich den Arzt an. Er legte seine Unterlagen weg und schaute mir in die Augen. „Weißt du eigentlich, wie stark du bist? Wirklich. Es reicht schon etwas Musik und du hast schon die Kraft gegen sowas Starkes anzukämpfen. Das ist beeindruckend und damit kann ich arbeiten. Wir kriegen das schon irgendwie hin“, versicherte mir der Arzt zuversichtlich. Offen gestanden war ich ziemlich stolz auf mich. Die Höhenangst belastete mich schon sehr lange. Vielleicht war ich stark genug, um diesen Kampf zu gewinnen.

Noah und Dana brachten mich nach Hause und begleiteten mich in meine Wohnung. Während Dana total ausgelassen war, schien Noah mit seinen Gedanken woanders zu sein. Sobald wir in der Wohnung ankamen, verschwand er in der Küche und setzte sich dort auf einen Stuhl. Dana sah besorgt zu ihm rüber und atmete durch. „Lass ihn…er kriegt sich wieder ein. Diese ganze Geschichte zwischen euch belastet ihn eben“, erklärte sie mitfühlend. Ich ließ meine Schultern hängen, denn ich wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte. Immerhin hatte ich ihm so vieles zu verdanken. Dana und ich zogen unsere Schuhe aus und gingen durch den kleinen Flur. Mein Zimmer war auch sehr klein…aber das machte nichts. Ich war sowieso selten zu Hause. Sie warf sich sofort auf mein kleines Bett und streckte ihre Füße, wie eine Katze ihre Pfoten. „Findest du, du hast mit Marvin die richtige Entscheidung getroffen? Immerhin hast du ihn in dein Leben gelassen und du weißt, wie es enden kann.“ Dana warf einen Blick auf mein Ouija-Brett, welches neben dem Fernseher stand. Klar, unsere Leben hatten sich in den letzten Jahren echt verändert. Und es geschahen auch seltsame Dinge. Doch ich wollte glücklich werden…mit Marvin. Unsicher starrte ich auf das Brett. „Es sind wirklich komische Dinge passiert…aber ich mache mir deshalb keine Sorgen. Es gibt andere Dinge, die mir Sorgen bereiten“, gestand ich nachdenklich. Dana setzte sich in eine Schneidersitz-Position und tippte auf die Bettdecke, damit ich mich neben sie setzte. Mit Noah rechneten wir beide nicht mehr. Das war vielleicht auch besser so. „Ich habe dir von seiner Drogen-Sucht erzählt…“, begann ich die Story. „Er hat wieder angefangen?“, schnitt mir Dana das Wort ab. „Nein, das ist es nicht. Also ich denke, er nimmt keine Drogen mehr. Aber seine Freunde machen das noch und seine Einstellung dazu ist auch nicht von schlechten Eltern.“ Ich zuckte ratlos mit meinen Achseln und schaute auf meine Fingernägel. „Das hört sich an, wie ein zweiter Kürsad“, entgegnete Dana besorgt. „Niemand ist so, wie Kürsad. Nein…aber weißt du? Ich habe es satt, um die Jungs zu kämpfen. Marvin wird alleine in den Urlaub fliegen und das mit seinem Kumpel, der bestimmt auch Drogen nimmt. Er trinkt Alkohol und allein der Geruch…der Geruch verführt mich. Ich will nicht, dass es so endet, wie damals. Ich brauche jemanden, der mich unterstützt. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin…für so eine Beziehung. Ich bin doch selber viel zu kaputt, um eine Suchtberatung zu spielen“, erzählte ich entsetzt. Ja, diese ganze Geschichte belastete mich sehr. Mein größter Wunsch war, eine normale und erwachsene Beziehung zu führen. Dana sagte nichts, also fuhr ich fort. „Und natürlich darf ich mich jetzt nicht mehr mit den Jungs treffen. Mit Jonah…Henry, Nick oder Enrico. Oder sonst irgendwen von meinen männlichen Freunden.“ Mein Blick wanderte von meinen Fingernägeln, zum Türrahmen, an dem Noah lehnte. „Auch nicht mit Noah?“, fragte er vorwurfsvoll. Ich schüttelte leicht den Kopf. Nein, auch nicht mit ihm. „Verstehe.“ Noah wandte seinen Blick ab und starrte verächtlich auf den Boden. Man sah ihm an, dass er sich zusammenreißen musste, nichts Blödes zu sagen. „Das kannst du nicht machen“, murmelte Dana. „Du kannst das nicht tun!“ Sie stand auf und stellte sich neben Noah. Auch in ihrem Blick lag etwas Verletztes. „Ich tue es für Marvin. Er braucht meine volle Aufmerksamkeit“, sagte ich schwach. Das war keine Ausrede dafür, dass ich meine Familie im Stich ließ. „Ja? Er hat sie doch längst! Du bist fast nur bei ihm! Er hat dir die Aufgabe gegeben, seine Drogen Probleme zu tolerieren oder am besten noch in den Griff zu bekommen. Das hast du gemacht. Dann meinte er, du sollst nicht mehr alleine auf Partys gehen. Schade, aber ok. Und jetzt willst du auch noch den Kontakt zu all den Menschen abbrechen, die für dich da waren, als du am Boden lagst und dich sogar umbringen wolltest? Und was gibt er dir? Was tut er?“, fuhr mich Dana empört an. Sie war mehr als wütend. Ihre Nasenlöcher bebten schon und ihre Wangen wurden rot. Es tat mir selbst weh aber ich wollte der Sache mit Marvin eine Chance geben. „Er ist sehr süß zu mir. Er kümmert sich…“, wollte ich sagen aber Dana hob die Hand. „Er trinkt weiterhin Alkohol mit anderen, obwohl er das selbst von dir nicht möchte. Wahrscheinlich nimmt er immer noch Drogen aber das sei mal dahin gestellt. Und, er fliegt einfach ohne dich in den Urlaub, weil ihm sein Kumpel wichtiger ist. Und was machst du hier? Du opferst alles. Ich habe dich immer verstanden aber jetzt geht’s mir zu weit.“ Dana stampfte Richtung Flur und man hörte, wie sie sich ihre Schuhe anzog. Ich traute mich gar nichts mehr zu sagen, denn sie hatte Recht. Ich hatte mich verändert und so vieles aufgegeben. Wie sollte es weiter gehen? Noah räusperte sich. „Ich mische mich da nicht ein, weil es nicht fair von mir wäre. Aber eine Beziehung läuft so nicht. Du bist nicht glücklich.“ Ich stand auf, denn ich wollte beide zur Tür bringen. Es reichte mir. Sowas wollte ich nicht hören. „Es liegt nicht an ihm“, flüsterte ich, als ich an Noah vorbei hastete. „Sondern an dir? Das glaubst du wohl selbst nicht“, gab Noah zurück. Dana stand bereits an der Türe, bereit zum gehen. Ihre Miene wirkte versteinert. „Es tut mir leid…“, hauchte ich. „Mir auch. Ich hoffe, er ist es wert.“ Dana schaute an mir vorbei auf den Boden. „Wir können uns ja treffen…nur mit den Jungs ist es kompliziert…“, versuchte ich die Situation zu retten. Noah öffnete die Wohnungstüre. Das erste Mal sah er mir echt und lange in die Augen. In seinen blauen Augen sah ich so viel Schmerz, dass ich es kaum verkraften konnte. „Ich werde unsere Gruppe nicht spalten. Werde glücklich mit ihm. Ich hoffe ehrlich, dass er es ernst mit dir meint und dass du es überlebst“, verabschiedete sich Dana und schloss die Türe hinter sich. Dana würde sich wieder beruhigen aber die Worte saßen tief in meinem Herzen.

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