Sonntag, 21. Mai 2017
Das Haus im Wald
Als wir durch die Windschutzscheibe sahen, bekamen wir das gewohnte Bild. Alles war komplett in Schwärze getaucht. Noah hatte das Auto irgendwo zwischen einem Feld und einem Wald geparkt und laut Navigationssystem musste man den Rest zu Fuß antreten. Ich saß im Schneidersitz auf der Beifahrerseite und musterte die Bilder von dem verlassenen Haus, welches irgendwo im Wald zu finden war. Nur wussten wir nicht, wo genau. Noah tippte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum, während Jonah und Dana auf den hinteren Sitzen diskutierten. Es handelte sich dabei mal wieder um banales Zeug. Nach wenigen Minuten drehte ich mich zu den anderen. „Leute? Ich weiß, dass dieses alte Kinderheim hier irgendwo ist…aber wir müssen wohl suchen“, verkündete ich grinsend. „Klar, wird ein Kinderspiel. Vor allem, weil man nachts im Wald so viel sieht“, zwinkerte mir Jonah zu und klatschte in die Hände. „Auf den Bildern sehe ich kein Feld. Nur dicht bewachsene Bäume. Wir müssen wohl tiefer in den Wald. Wenigstens haben wir einen Anhaltspunkt“, stellte ich zuversichtlich fest und strich meine Haare hinters Ohr. Meine Haare gingen mir mittlerweile bis zu meinen Ohrläppchen, hatten aber noch einen gewissen rot-Stich. Dana sah skeptisch nach draußen. „Wir werden sicher umgebracht. Also, wenn ich ein psychisch gestörter Serienmörder wäre, dann würde ich uns umbringen“, meinte sie halb im Scherz und halb, weil sie echt Angst hatte. „Dann muss er erst einmal an mir vorbei“, bemerkte ich lachend und stieg motiviert aus dem Auto. „Sagt der breiteste Schrank von uns allen“, hörte ich Noah noch scherzen, bevor die Autotür zufiel. (…)
Nachdem wir unsere Rucksäcke angezogen hatten, schalteten wir die Taschenlampen ein und begannen unsere Wanderung. Es war eine kalte Herbstnacht und ich war erleichtert, dass ich mir doch meinen dunkelroten oversize Pullover angezogen hatte. Dazu trug ich dunkle Stiefel, die mir bis zu meinen Knien gingen. So konnte man wenigstens nicht frieren.
Ich führte die Gruppe an, obwohl ich ehrlich gesagt keinen Schimmer hatte, wo sich das alte Haus befand. Je länger wir liefen, desto dichter standen die Baumstämme aneinander und umso sicherer wurde ich mir, dass wir dem Ziel näher kamen. Der Mond schien aber erleuchtete uns nur schwach den Weg. Wir mussten selber das Licht sein, welches den Pfad wies. (…)
Nach einer Stunde liefen wir immer noch. Dana und Jonah blödelten hinter Noah und mir herum. Wenigstens jammerten sie nicht. Das schätze ich sehr an ihnen, denn sie wussten ja, wieso ich diese Ausflüge brauchte. „Was ist, wenn wir das Haus nicht finden?“, fragte Noah mich. Da hörte ich etwas und blieb abrupt stehen. Es hörte sich an, wie ein fließender Bach. „Was ist? Wieso bleiben wir stehen?“, wollte Jonah wissen. „Hier irgendwo muss ein Bach sein. Ich meine auf den Bildern auch Wasser gesehen zu haben“, sagte ich und lauschte sofort wieder. Alle waren leise und versuchten es zu hören. „Ich höre nichts“, flüsterte Dana irritiert. Die anderen schienen auch nichts zu hören aber ich, klar und deutlich. „Man, ihr müsst euch die Ohren waschen.“ Damit ging ich weiter und folgte dem Geräusch des Wassers. (…)
Da war es nun: ein altes, Einsturz-gefährdetes Steinhaus mitten im Wald. Hier sollten also mal Kinder gelebt haben, die aus verschiedenen, traurigen Gründen nicht bei ihren Eltern hatten leben können. Dies waren die Reste. „Wir gehen aber nicht da rein. Das sieht aus, als würde es jeden Moment einstürzen“, sagte Dana sofort, als der Lichtkegel ihrer Taschenlampe die Fassade des Hauses absuchte. „Normalerweise bin ich der Verrückte aber ich flirte hier draußen lieber mit Dana“, kicherte Jonah und legte einen Arm um ihre Schultern. Dana verzog genervt das Gesicht und rollte mit ihren grünen Augen. „Na, dann“, meinte ich, streifte meinen Rucksack von meinen Schultern und reichte ihn Dana. Anschließend ging ich zielstrebig auf das Loch des Hauses zu, welches vor Jahrzehnten mal eine Tür gewesen sein musste. „Das kann doch nicht dein ernst sein!“, rief Noah mir hinterher. Er holte mich ein, kurz bevor ich im Haus verschwunden wäre und blockierte den Weg mit seinem Arm. „Wenn du da rein gehst muss ich auch. Das ist diesmal nicht sicher genug.“ Ich warf ihm einen amüsierten Blick zu und kroch unter seinem Arm hindurch. Zuerst hörte ich ihn genervt schnaufen und anschließend Schritte, die mir folgten. (…)
Die unteren Räume waren unspektakulär und muffig. Es gab keine Möbel, nur eine alte Couch. An den Wänden waren Graffitis. Wir waren wohl nicht die Einzigen, die gerne mal durch Wälder wanderten. Es gab eine schmale Treppe aus Stein, die in weitere Räume führte. Doch die war an einigen Stellen schon zerfallen. Trotzdem packte mich die Neugier. Entschlossen leuchtete ich mit meiner Taschenlampe auf die Stufen. „Oh man, wenn wegen dir das ganze Ding einstürzt haben wir echt ein Problem“, stellte Noah fest, als er meinen Plan durchschaut hatte. „Du bleibst aber hier unten“, unterbrach ich ihn direkt. „Erstens brauche ich jemanden, der auf die Stufen leuchtet, während ich klettere und zweitens glaube ich nicht, dass die Treppe deinem Gewicht noch standhält.“
„Alles klar, Boss.“ Noah leuchtete auf die Treppe und ich begann zu laufen. Die ersten Stufen waren noch in Ordnung aber dann fehlten einige und ich musste mich hochziehen. Es war nicht hoch, deshalb hatte ich kein Problem damit. Als ich auf der ersten Etage stand, leuchtete ich nach unten. „Alles gut, warte da.“
Vorsichtig tastete ich mich durch den schmalen Flur, bis ich vor einem Zimmer stand. Sobald ich die Taschenlampe hob und in das Zimmer leuchtete, wurde alles hell und ich erkannte ein Kinderzimmer. Plötzlich waren die Wände nicht mehr alt und voller Zeichnungen. Es gab eine blumige Tapete und einen Teppichboden. Die Holzmöbel waren zwar alt aber noch zu gebrauchen. An dem großen Fenster gegenüber der Tür hingen sogar Gardinen. Und am Fenster stand ein Mädchen und schaute hinaus. Ich hörte den Bach, der hinterm Haus ruhte. Das Mädchen hatte dunkelbraune, lockige Haare und ein hellgelbes Kleid an. Ihre nackten Beine waren mit violetten Flecken übersät. Langsam näherte ich mich dem Mädchen. „Hallo? Was machst du hier?“, fragte ich leise. Keine Reaktion. „Hey, ich will dir helfen…“
Als ich meine Hand ausstrecken wollte, verschwamm das ganze Bild und meine Taschenlampe wurde glühend heiß. Vor Schreck ließ ich sie fallen und fing an zu schreien. Die Dunkelheit verschluckte mich. Bis ich ein Licht sah und schwere, schnelle Schritte hörte. „Alles gut mit dir?“, hörte ich Noah fragen. Benommen schaute ich mich im dunklen Zimmer um, in dem ich keine Tapete erkannte oder Möbel. Es war leer und dreckig. Das Mädchen war verschwunden und ich saß auf dem kahlen Boden. Hatte ich geträumt? „Meine Taschenlampe ist kaputt“, hauchte ich. Noah griff nach meiner Hand und zog mich auf meine Beine. „Du bist mega blass…ich glaube wir sollten echt gehen“, sagte er und hob meine Taschenlampe auf. Er schaltete sie ein und sie leuchtete ohne heiß zu werden. (…)

Als wir wieder draußen waren zog mich Noah hinters Haus, weil er mit mir sprechen wollte. Er lehnte sich gegen die bröcklige Fassade und zog eine Augenbraue hoch. „Also ich finde es gut, dass du mit den Drogen aufgehört hast und diese Wanderungen als Therapie siehst. Das lenkt dich bestimmt von deinen Gedanken ab aber ich bemerke auch, dass du dadurch andere Gedanken bekommst. Gedanken, mit denen du vielleicht nicht umgehen kannst.“ Mist, er hatte recht aber ich brauchte diese Nachtwanderungen. Sie lenkten mich ab und verhinderten, dass ich wieder auf dumme Partys ging. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und atmete durch, ohne ihm in die Augen zu sehen. „Manchmal gehen in meinem Kopf komische Dinge ab aber ich komme damit klar. Irgendwie…nur ich habe das Gefühl, dass die Welt einfach zu schlecht für mich ist. Und das ich nichts daran ändern kann“, gab ich betrübt zu. Noah spielte mit den Taschenlampen rum, anscheinend dachte er nach. Daraufhin wanderte sein Blick zum Bach neben uns und er wies mich an, ihm zu folgen.
Wir blieben vor dem Bach stehen und sahen, wie eine leichte Strömung das Wasser wegtreiben ließ. Noah legte die Taschenlampen auf den Boden und nahm meine Hand, um sie ins kalte Bachwasser zu halten. Ich zuckte leicht zusammen. „Spürst du die Kälte? Die leichte Strömung?“ Ich nickte. „Und findest du jetzt, dass dieser Bach böse ist? Nein, denn das ist nur Wasser, welches seinen natürlichen Weg geht. Es fließt. Und du spürst, wie es fließt und du riechst auch die Wiese hier und die Bäume. Meine Tante, die Mutter von Jonah, hat immer gesagt: Wenn ich die Welt fühlen kann, dann kann ich sie auch verändern. Die Welt ist nicht böse…und du bist für diese Welt, für deine Welt gemacht und du kannst sie fühlen. Du siehst nicht nur den Menschen, du fühlst ihn. Genauso, wie das Wasser hier.“ Nach seiner Rede lächelte er mich schief an und ließ meine Hand los. Ich nahm meine Hand aus dem Wasser und starrte ihn erst mit offenem Mund an und fing dann an zu grinsen. „Wow, wenn man bedenkt mit welchen Leuten du damals befreundet warst, kann ich nicht fassen, wie diese Worte aus deinem Mund kommen können.“
„Das Gleiche könnte ich auch über dich sagen“, erwiderte er zwinkernd. Schachmatt.
„Können wir jetzt gehen? Dana kriegt langsam Paranoia“, rief Jonah uns vom Haus aus zu und lachte Lauthals. „Von wegen! Jonah heult rum!“, ertönte Danas Stimme im Hintergrund. Noah sah mich belustigt an. „Das nächste Mal gehen wir alleine. Das könnte sogar romantisch werden.“ Wir nahmen die Taschenlampen und ich boxte ihm spielerisch gegen die Rippen. „Träum weiter“, sagte ich entschieden. (…)

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