Freitag, 23. Dezember 2016
Die Wunden der Seele
Ich fuhr einfach. Ich wusste nicht, wohin. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt wach war. Wer war ich? Wo war ich? Wie hatte es so weit kommen können? Wie?
War nicht alles total durchdacht gewesen? Hatte ich nicht genug verziehen? Wo war der Dank? Der Sinn? War alles umsonst gewesen?
Irgendwann sah ich die Leuchtschrift von McDonalds. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? Mein Magen knurrte, doch ich verspürte keinen Hunger. Ich verspürte nichts.
Trotzdem brauchte ich eine Pause, denn mein linker Arm schmerzte bei jeder noch so kleinen Bewegung. Deshalb setzte ich den Blinker und parkte auf dem bereits dunklen Parkplatz. Es schien, als seien nur noch die Mercedes-Fahrer wach, die sich nach einem Mitternachts-Snack sehnten. Mein Auto war wohl das Einzige, welches nur knapp über den TÜV kam. Wie betäubt, trat ich in die kühle Nachtluft und verschloss meinen Wagen, bevor ich auf die Eingangstür zu humpelte. Ich wusste nicht einmal, wo genau ich verletzt war und wie es hatte so ausarten können. Benebelt öffnete ich die Tür und kniff sofort die Augen zusammen, denn das grelle Licht verschlimmerte das Brennen meiner Augen. Es war nicht mehr viel los. Hier und dort saßen Jugendliche und verschlangen die Reste ihres Burgers. Das waren also die Mercedes-Fahrer? Hatte ich mir doch naiver weise Geschäftsmänner vorgestellt. Da ich keinen Hunger hatte, trottete ich zur Kaffee-Bar und lehnte mich erschöpft auf die Theke. Sofort erschien ein junger Mann, der etwas Spanisches an sich hatte und breit grinste. Anscheinend hatte er einen besseren Tag hinter sich, als ich. „Einen Kaffee zum mitnehmen, bitte“, orderte ich mit kratziger Stimme. Der Mann musterte mich erst jetzt und weitete seine Augen. „Schätzchen, was ist dir denn passiert?“, rief er aus. Dabei gestikulierte er mit seiner Hand rum, als würde eine Fliege auf seiner Schulter sitzen. „So sah ich das letzte Mal aus, als mein Freund mich hatte warten lassen!“ Das erklärte einiges. Ich zwang mich dazu, leicht zu lächeln. „War kein guter Tag“, sagte ich leise und mied Blickkontakt. Das Letzte was ich jetzt gebrauchen konnte war ein Heulkrampf mitten in einer McDonalds-Filiale. „Das sieht man Kleine! Deine Wimperntusche ist überall, außer an deinen Wimpern! Süße, der Schoko-Weihnachtsmann geht aufs Haus!“, meinte er mitfühlend und reichte mir einen. „Danke“, hauchte ich. Ich war froh, dass er anschließend schwieg und mir meinen Kaffee-Becher reichte.
Wie in Trance, setzte ich mich auf einen Sessel neben der Theke und schlürfte an meinem Kaffee. Dabei verbrannte ich mir die Zunge, doch es machte mir nichts aus. Körperlicher Schmerz war nicht ewig…doch was mit der Seele geschah, das konnte keiner so wirklich sagen. Natürlich wünschte ich mir, dass meine Seele einst vergessen würde, was ich gesehen hatte und vor allem, was ich gefühlt hatte. Was ich immer noch fühlte.
Mein Zeitgefühl ging gen Null. Irgendwann entschied ich mich dazu, wieder zu meinem Auto zu gehen und nach Hause zu fahren.
Wie gewohnt, parkte ich mein Auto in der Garage. Ich machte alles nur noch aus Gewohnheit.
Meine Füße brachten mich automatisch hinauf zu meiner Wohnung. Im Flur zog ich Jacke und Schuhe aus, grüßte meine Großeltern mechanisch und verschwand in meinem Zimmer.
Dort sah ich mich das erste Mal, seit dem ich gestorben war.
Da stand ich also, vor dem Spiegel, den mein Onkel einst an meine Tür geklebt hatte. Mein Blick fiel zunächst auf mein Gesicht. Mein Gesicht war kreidebleich, außer kleine Stellen an meiner Wange, denn die schwollen an und wurden rot. Meine Augen waren auch gerötet aber damit hatte ich bereits gerechnet. Ansonsten war meine Wimperntusche wirklich überall, außer an meinen Wimpern. Das Mädchen, welches ich im Spiegel sah, das war mir leider so bekannt, dass sich ein weiterer Kloß in meinem Hals bildete. Langsam atmete ich durch und begann damit, mein Hemd auszuziehen. Bei jeder Bewegung schmerzte mein linker Arm aber ich beachtete es nicht. Nachdem mein Hemd auf dem Boden landete, war meine Hose dran.
Der Moment kam und ich sah mich. Ich sah mich mit dem angeschwollenen Arm. Ich sah mich mit den blauen Flecken auf Armen und an meinem linken Bein. Mir wurde bewusst, dass mein Arzt recht behalten hatte. Mein Körper war sehr zerbrechlich.
Plötzlich tauchte Kürsad hinter mir im Spiegel auf und legte seine Hände auf meine Schultern. Er grinste…dieses Grinsen. Dieses böse Grinsen. „Ich habe dir doch gesagt: Dich kann man nur verprügeln! Sonst hörst du nicht“, flüsterte er mir ins Ohr. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich ging auf die Knie.
Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Zu lange hatte ich versucht, den Menschen zu helfen. Zu oft hatte ich vergeben. Zu oft hatte ich versucht, Hass durch Liebe zu heilen.
Dabei hatte ich eine Sache vergessen:
Mein Körper heilte schnell…meine Seele leider nie.

... link