Montag, 9. Januar 2017
Ein Sumpf der Verzweiflung
Jeder Knochen meines Körpers schmerzte aber mein Rücken hatte gewonnen. Als ich die Augen öffnete und in einen grauen Himmel starrte wusste ich sofort, dass ich nichts wusste. Müde rappelte ich mich auf und setzte mich auf die Kante der Parkbank. Meine Nase brannte. Instinktiv strich ich mit meinen Fingern über meine Lippe. Getrocknetes Blut. Etwas durch die Nase zu ziehen war eine mehr als dumme Idee gewesen. Beim Sitzen spürte ich, dass sich etwas in meiner Gesäßtasche der Jeans befand, welche ich trug. Mein „Notfall-Handy“. Mit einem leichten Hauch von Hoffnung ließ ich das Display aufleuchten. Nichts. Keine Anrufe, keine Nachricht. Keiner aus meiner Familie vermisste mich. Enttäuscht aber auch ernüchtert steckte ich das Handy wieder in meine Jeanstasche und stand auf.
Erst da bemerkte ich, wie schwindelig mir war.
Taumelnd bahnte ich mir einen Weg durch den Park, der zu dieser frühen Morgenstunde komplett leer war. Zum Glück war es nicht so kalt, weil ich nur einen kaputten Kapuzenpulli trug. Nachdem ich mich neben einem Busch übergeben hatte, fand ich den Weg aus dem Park und begab mich in Richtung Siedlung. Ich ging die schmalen Straßen entlang, bis ich seine Wohnung sah. Hatte ich eine Wahl? Zu der Zeit war es mir nicht bewusst. Jemand packte mich von hinten an meinem Oberarm und presste mich gegen eine kalte Hauswand. Kürsad funkelte mich wütend an. Seine braunen Augen erschienen dadurch fast schwarz. „Wo zum Teufel warst du?!“, fauchte er aufgebracht. Tja, wenn ich das wüsste. Eine Party mit Henry war eine Garantie für einen Hang-over. „Du hattest nur eine Aufgabe! Du solltest nur den Stoff besorgen und mir bringen! Stattdessen feierst du mit dem Idioten?!“, fuhr er mich weiter an. Dabei roch ich seine starke Alkohol-Fahne. Von wegen, er durfte das also. „Du stinkst auch, wie eine Kneipe“, stellte ich frech fest. Da fiel es mir plötzlich ein und ich wusste, was in meiner anderen Jeanstasche war. Grade als ich danach greifen wollte, verpasste Kürsad mir eine, sodass meine Wange glühte. „Was ich mache ist meine Sache“, knurrte er danach. Typisch, seine Sache.
Ich hörte wie eine Tür zu geknallt wurde und wie lachende Jungs aus seiner Wohnung kamen. Es war immer das Gleiche. Als ich über Kürsads Schulter blickte, erkannte ich seine Freunde inklusive Noah, der stehen blieb und zu uns rüber kam. Er musterte mich erst beiläufig, dann verharrte er auf meinem Gesicht. Er stieß Kürsad leicht zur Seite und sprach leise, doch ich konnte es hören. „Was ist mit ihr passiert?“, fragte Noah mit einem vorwurfsvollen Tonfall. „Die hat nur was für mich erledigt. Keine Ahnung, welche Droge die sich rein gepfiffen hat“, sagte Kürsad abfällig. Ich stand einfach da und wünschte mir, ich wäre nicht dort. So behandelten mich auch schließlich alle. „Junge, das Mädchen ist dreizehn! Sie ist noch ein Kind…lass es einfach“, ermahnte Noah ihn. Das war die Stelle, an der ich nicht mehr zuhörte. Eine alte Frau lief grade an uns vorbei. Sie trug zwei große Tüten mit Lebensmitteln. Schwerfällig setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Kurz nachdem sie uns passiert hatte, riss ihr eine Tüte und die ganzen Lebensmittel verteilten sich auf dem Gehweg. Ohne zu zögern ging ich auf die Frau zu und kniete mich hin, um die Lebensmittel wieder in die kaputte Tüte zu packen. Den Rest packte ich mir auf die Arme. „Das ist so lieb von dir, mein Kind!“, bedankte sich die Dame bei mir und wollte mir die Sachen abnehmen. „Ich muss sowieso da vorne ins Haus. Den Rest schaffe ich.“
Ihr Gesicht war sehr faltig und sie hatte kaum noch Haare. Plötzlich überkam mich ein Gefühl der Einsamkeit und ich wusste, es war nicht meins. Die Frau war einsam. „Ich bringe ihnen das vor ihre Wohnungstür“, schlug ich vor und setzte mich schon langsam in Bewegung. „Oh, geht’s dir denn gut? Dein Gesicht ist voller Blut und angeschwollen“, bemerkte die Frau mitleidig. „Bin gegen einen Baum gerannt. Alles gut“, log ich. Die Frau nickte und sagte nichts mehr dazu.
„Hey! Wo willst du hin?“, rief mir Kürsad hinterher. Ich drehte mich um und sah die Beiden immer noch an der Hauswand stehen. Noah hatte beide Augenbrauen nach oben gezogen, so als hätte ihn was erstaunt. Kürsad war sauer, wie immer. „Ich mache was Gutes“, erwiderte ich schroff und ging weiter.
Natürlich bekam ich später die Quittung dafür.
Als ich in Kürsads Wohnung kam, fiel mein Blick direkt auf das Wohnzimmer, welches total verwüstet war. Überall lagen Pizzakartons, leere Packungen von Zigaretten und Shisha Tabak und leere Flaschen von Bier.
Kürsad saß auf der dreckigen Couch und zog eine Augenbraue hoch. „Du willst was Gutes tun? Dann mach hier sauber!“, wies er mich an. „Danach möchte ich etwas essen.“ Er stand auf, reichte mir einen Besen und kniff mir in meinen Hintern. Anschließend verließ er das Zimmer und knallte die Tür zu. Ich war allein, endlich.
Mir war furchtbar schlecht, ich hatte mich lange nicht mehr richtig gewaschen und lange nichts mehr gegessen oder mal Wasser getrunken. Ich war gefangen.
Meine langen, strähnig-blonden Haare fielen mir ins Gesicht. Der Zopf schien wohl nicht mehr länger zu halten. Mit der letzten Kraft versuchte ich das Zimmer aufzuräumen, obwohl mir alles schmerzte.
Nach einer Stunde hatte ich es tatsächlich geschafft und meine nächste Station würde wohl die Küche sein. Erschöpft begann ich Kartoffeln zu schneiden…
Irgendwann zwischen Drogen und Küchenarbeit schaffte ich es auch in die Schule.
Nicht oft und gut war ich auch nicht, zumindest nicht, was die mündliche Mitarbeit anging. Die Zeit im Unterricht vertrieb ich mir lieber, indem ich meinen Schlaf nachholte. Natürlich wurde ich oft angemeckert. Die Lehrer bezeichneten mich als frech und faul.
Das war mir allerdings egal, denn ich kannte die Wahrheit.
Keiner kümmerte sich um die wahre Haylie, wirklich keiner. Die Kinder in der Schule begannen über mich zu lästern. Ihnen passte es nicht, dass ich meine Freizeit nur in der Großstadt mit Älteren verbrachte. Aber auch ihre Meinung war mir egal. Dennoch platzte mir irgendwann der Kragen.
In der Pause marschierte ich in die Mensa und suchte Tessa, das Klatschweib unter den Kindern. Als ich das klischeehafte, blonde Mädchen sah, packte ich sie an ihrem rosa Oberteil und presste sie gegen die Wand. „Hey! Was soll das?!“, jammerte die Prinzessin. „Pass mal gut auf. Ja, ich bin kleiner, als du und hab ein süßes, rundes, kleines, unschuldiges Gesicht. Und ja, dieses Gesicht ist oft mal unterwegs aber hier geht keinem was an, was ich in meiner Freizeit mache! Keinem! Du brauchst dir keine scheinheiligen Sorgen zu machen oder sonst was. Aus dem Kindergarten sind wir schon lange raus. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich bin kein Opfer, also spar dir deine Sprüche!“, knurrte ich bedrohlich. Noch bevor ein Lehrer einschreiten konnte, ließ ich sie los und verschwand. Alle ließen mich in Ruhe und wurden sogar netter. Doch meine Pausen verbrachte ich doch lieber auf der Fensterbank der Bücherei. In der die Menschen einfach nur zu den Hintergrundgeräuschen gehörten.

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